Weißer Teufel
Jahrhundert umgaben eine mit Kieswegen umrandete Rasenfläche. Ein hoher, reichverzierter Brunnen befand sich in der Mitte. Agatha plauderte mit Persephone, während sich Andrew über die Ruhe wunderte, die in dem riesigen Hof herrschte; die Zeit hatte diesem Ort nicht viel anhaben können. Sie folgten dem Weg zu dem Gebäude auf der anderen Seite, stiegen ein paar Stufen hinauf und duckten sich durch eine in einen Bogen eingelassene Tür. Ein Gang, laut und belebt, unterteilte das historische Gebäude. Studenten mit Schals und Armeejacken hasteten an ihnen vorbei. Mit wenigen Schritten erreichten sie eine weitere Tür und kamen in einen anderen nebligen Hof, nur war dieser kleiner und vollkommen still. Auf der anderen Seite erhob sich ein mehrstöckiges Gebäude mit Arkaden.
»Das ist sie«, sagte Agatha und ging voran. »Die Wren Library. Wie heißt deine Archivarin, Andrew ?«
»Lena Rasmussen. Kennst du sie?«
»Ich studiere Wirtschaft«, erwiderte Agatha. »Deshalb hab ich für seltene Handschriften kaum Verwendung.«
Unter den Arkaden befand sich der Eingang. Sie gingen eine breite Steintreppe hinauf. Drei Meter hohe Porträts von früheren College-Größen zierten die Wände. Viele mit finsterem Blick und Talar.
»Die sind da, um amerikanischen Touristen Angst zu machen«, scherzte Agatha.
Sie kamen in einen langen Raum, zwei Etagen hoch mit Fenstern im zweiten Stock, durch die das Tageslicht fiel. Weiß getünchte Wände mit walnussbraunen Regalen, die eine ganze Reihe Nischen bildeten. Die waren vollgestopft mit verstaubten, vom Alter brüchigen Bänden und mitSamtkordeln abgesperrt, um die Arbeitsplätze mit Lampen und kleinen Schreibtischen zu schützen. Im Raum verteilt standen weiße Büsten von literarischen Heroen auf Sockeln: Vergil, Cicero, Milton. Am Ende des Saals ragte die größte Statue aus Marmor auf – eine Figur, die ein Buch und eine Schreibfeder in den Händen hielt. Abgesehen von ein paar Leuten im vorderen Bereich schien es in der Wren Library mehr Büsten als lebendige Menschen zu geben.
Agatha steuerte ein Pult an, hinter dem ein Mann saß und lustlos in den Computer tippte. Er trug einen schlabberigen bräunlichen Pullover und hatte nur noch oben am Kopf einen grauen Haarschopf, ansonsten war er kahl. Agatha fragte nach Lena Rasmussen. Der Mann schien überrascht zu sein, hier einem menschlichen Wesen zu begegnen und erst recht einer üppigen Neunzehnjährigen in teuren Kleidern und mit einer roten Haarmähne. Eine Frau kam aus der gegenüberliegenden Nische. Sie war Mitte zwanzig mit breiten, skandinavischen Wangenknochen. Sie trug ein braunes T-Shirt und schwarze Jeans, hatte ein Nasenpiercing und zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene schwarze Haare.
»Ich bin ein Schüler von Dr. Kahn«, sagte Andrew. »Sie hat Ihnen Briefe geschickt, die ich gefunden habe.«
Die Archivarin taxierte ihn belustigt. »Du bist das also«, sagte sie. »Diese Papiere haben einen ziemlichen Wirbel verursacht. Du bist Schüler in Harrow ?«
»Ja.«
»Sieht fast so aus, als hättest du Briefe gefunden, die Lord Byron dort hinterlassen hat«, sagte Lena.
»Du hast Briefe … von Lord Byron gefunden?«, rief Agatha, die bisher den Grund ihres Besuches nicht gekannt hatte.
»Nicht von Byron«, korrigierte Lena, »sondern an ihn. Ich habe Reggie Cade diese Briefe gezeigt. Er kann euch Näheres erklären.«
»Wer ist Reggie Cade?«
»Ein Kollege. Er hat das Byron-Institut an der University of Manchester gegründet, ehe das Trinity ihn abgeworben hat. Erst gestern war er hier, um sich die Briefe anzusehen.« Lena deutete zu der übergroßen Marmorstatue. »Das ist er.«
»Reggie Cade?«, fragte Andrew. Die drei Meter große Figur mit Buch und Feder saß heroisch auf einer umgestürzten griechischen Säule.
Die Archivarin lächelte. »Nein. Lord Byron. Die Statue war eigentlich für die Westminster Abbey gedacht. Doch die Kirche duldete nicht, dass einem berüchtigten Sexsüchtigen ein Denkmal gesetzt wird. Also hat man sie ins Trinity geschickt – hier sind Lüstlinge immer willkommen.«
Sie ging zu der Nische, in der sie gesessen hatte, und blätterte in einem Adressbuch.
»Die ist komisch«, raunte Agatha. »Persephone … ist alles in Ordnung mit dir?«
Persephone war blass.
»Ja.«
»Du siehst schrecklich aus.«
»Mir geht’s gut. Mein Blutzuckerspiegel ist vielleicht ein bisschen niedrig.«
Andrew legte den Arm um sie.
»Wie süß!«, flötete Agatha
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