Weißer Teufel
mich aus dem Haus«, sagte sie, als wäre das die nächstliegende Lösung.
»Wird er das nicht merken?«
»Ich erfinde eine Ausrede.«
»Welche zum Beispiel?« Andrew war es gar nicht recht, Sir Alan in diese Geschichte irgendwie miteinzubeziehen.
»O Andrew«, gab sie zurück. »Er hat dich eingeschüchtert wie alle anderen. Ich weiß, wie ich mit Daddy umgehen muss.«
Andrew führte weitere Gründe an, warum es besser war, dass sie nicht mitkam. Er glaubte, dass Harness die Krankheit verbreitete, aber was, wenn er sich irrte? Wenn er selbst ansteckend war?
»Also keine Küsse«, sagte sie.
»Und der Unterricht?«
»Ich hab doch gesagt, dass ich mir was einfallen lasse.«
»Das klingt nicht, als bräuchtest du meine Erlaubnis.«
»Ich schicke Agatha eine SMS. Sie wird ganz aus dem Häuschen sein.«
Sie trafen sich am King’s Cross. Alle Cafés und Zeitungsstände waren geschlossen. Die Bahnsteige waren beinahe menschenleer. Der Acht-Uhr-einundvierzig-Zug nach Cambridge fährt auf Gleis acht ein, dröhnte es aus dem Lautsprecher. Andrew lächelte, als Persephone auf ihn zukam.
»Du hast es geschafft«, sagte er.
Sie schlang die Arme um ihn und küsste ihn – lang und leidenschaftlich.
»Wir haben gesagt: keine Küsse«, schalt er, als er nach Luft schnappte.
»Jetzt haben wir dieselbe Krankheit.« Sie grinste.
»Selber Haarschnitt. Selbe Krankheit.«
»Nichts kann uns trennen.« Sie verschränkte ihre Finger mit seinen.
Der Zug war leer. Persephone lehnte sich ans Fenster und legte die Beine auf Andrews Schoß. Die Lichter im Abteil flackerten. Sie beobachteten, wie erst London, dann kleinere Orte und die orangefarbenen und gelben Lichter an ihnen vorbeiflogen. Dann war alles dunkel.
»Ich hatte eine Abtreibung.«
Andrew blinzelte. »Was? Wann?«
»Letztes Jahr. Ich war schwanger von Simon.«
Andrews Brust wurde eng.
»Darauf hat Rebecca angespielt. So, jetzt weißt du’s.«
Andrew war sprachlos. All die Fragen, die er stellen wollte – Wie ist das? Tut es weh? Warst du danach erleichtert, oder hast du dich schrecklich gefühlt, wie die Abtreibungsgegner behaupten? So, als hättest du jemanden getötet? –, erschienen ihm zudringlich und falsch. Hieß das, dass Simon und ihre gemeinsame Vergangenheit für immer einen besonderen Platz in ihrem Leben einnahmen, einen Platz, den er selbst nie erobern konnte? Es war ein erbärmlicher, kindischer Gedanke. Trotzdem machte er ihm zu schaffen.
»Okay«, brachte er heraus.
»Willst du jetzt noch mit mir zusammen sein?«
»Ja.«
»Dann ist es gut.«
»Sonst noch was?«, fragte er.
»Vorerst nicht.«
Der Zug raste durch einen Bahnhof. Andrew erhaschte einen Blick auf Persephones Gesicht. Ihre Augen waren traurig. Vielleicht war dies die Antwort auf eine seiner Fragen.
»Ich hoffe, wir finden etwas in den Briefen«, wechselte er das Thema. »Roddys Zustand ist ernst. Und ich bin daran schuld.«
»Wieso? Du hast den Geist doch nicht durch Hexenzauber heraufbeschworen.«
»Wenn ich nicht nach Harrow und ins Lot gekommen wäre, würde Theo vielleicht noch leben. Und Roddy wäre nicht krank geworden.«
»Aber dann hättest du mich auch nicht kennengelernt«, sagte sie. »Mir ist kalt.«
Sie schmiegte sich an ihn, und er legte den Arm um sie.
Als sie den vergleichsweise kleinen Bahnhof in Cambridge verließen, kamen sie auf einen Verkehrskreisel. Dort waren Hunderte von Studentenfahrrädern an einem Ständer festgekettet. Sie gingen, hüpften beinahe Hand in Handden Boulevard entlang. Persephone kannte den Weg von früheren Besuchen bei Agatha. Hin und wieder blieben sie stehen und küssten sich, drückten sich in Nischen oder Eingänge und steigerten ihre Vorfreude auf das Kommende. Andrew ließ sich treiben, gestattete sich diese kleine Flucht. Irgendwann nahm er am Rande wahr, dass die Straßen schmaler wurden und von Steingebäuden mit gotischen Fenstern gesäumt waren. Persephone ergriff seine Hände und schob sie unter ihre Bluse.
»O mein Gott, du hast keinen BH an. Ich verliere die Beherrschung.«
»Noch nicht«, flüsterte sie. »Erst oben.«
»Wir sind da?«
Persephone förderte einen Schlüssel zutage, und sie rannten die steinerne Treppe hinauf. Ein verstaubter Radiator verbreitete Hitze in Agathas Zimmer. Andrew nahm die Umgebung mit einem Blick in sich auf: Dickes Federbett, Fotos von lächelnden Freunden, ein Computer, Erkerfenster mit Blick auf die Trinity Street. Dann schaltete Persephone das Licht aus. Sie küssten
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