Weißer Teufel
weitere SMS:
Zitiere Byron, und ich schlafe definitiv mit dir.
Wow. Das wartete da draußen . Er lachte, verstummte jedoch schnell, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Es schien, als füllte sich Dr. Kahns Büro langsam mit Gas. Es stieg vom Boden auf, bis es die Decke erreichte. Eine Präsenz, dicht und bedrückend, raubte Andrew die freudige Erregung. Subtile Geräusche, winzige Laute, die ein menschliches Wesen verursachte – das Rascheln von Kleidung, das Knarren einer Bodendiele –, flüsterten in der dichten Atmosphäre. Dennoch regte sich die Erscheinung nicht. Sie bebte lediglich vor Verlangen, alles zu beobachten. Raubtierhaft. Still. Dann kam nach und nach das Atmen. Es fing leise an, als würde jemand den Arm oder ein Taschentuch an den Mund drücken. Aber es war da. Und schließlich konnte Andrew es richtig hören. Als ob der Beobachter sich keine Mühe mehr machte, seine Anwesenheit zu verbergen.
Andrew umklammerte das Handy in seiner Hand so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er schnappte nach Luft und wirbelte herum. Das Telefon flog ihm aus der Hand und fiel klappernd auf den Boden.
Ein leeres Büro starrte ihn an. Dr. Kahns Papiere pulsierten unter den fluoreszierenden Leuchten, als wären sie selbst mit Licht aufgeladen worden. Dann setzten sie sichab, und dieses kranke, schwere Gas sickerte aus dem Raum, als ob es jemand mit einem Strohhalm absaugen würde.
Andrew hob behutsam sein Handy auf. Vier Nachrichten warteten auf ihn.
Bist du noch da? Ich hab dich abgeschreckt, oder? Oh, verdammt. Es war nur ein Witz. Tausend Dank.
Er tippte ungeschickt in sein Telefon:
Ich bin hier. Jemand hat vorbeigeschaut, das ist alles.
Am Donnerstag saß Dr. Kahn an ihrem Schreibtisch und wartete auf ihn. Ihre Augen waren klein, rund und schwarz-braun und beobachteten ihn über den Brillenrand hinweg, als könnten sie Stahlplatten durchbohren.
»Ich habe dir die beste Sekundärliteratur herausgesucht, die wir in unserer Sammlung haben«, begann sie, ohne abzuwarten, bis er sich gesetzt hatte. »Jetzt möchte ich wissen, was du bisher gelernt hast.«
Andrew verspürte ein nervöses Zittern. Er legte die Hand auf ein Buch – das abgegriffene blaue, Byron in Harrow, von Patrick Burke, herausgegeben 1908 –, als würde es ihm durch elektrische Strömungen Wissen vermitteln.
Byron war zwei Klassen über Harness in Harrow, fing er an.
Byron galt in Harrow als zorniger, exotischer junger Mann. Sein Klumpfuß verunstaltete ihn; die Metallstütze, die ihm die Ärzte verordnet hatten, um die Fehlstellung zukorrigieren, war ihm peinlich; und er war erpicht darauf, sich in Faustkämpfen zu beweisen und im Unterricht aufzufallen. Trotz seines Titels und des Reichtums, den er unerwartet im Alter von zehn Jahren geerbt hatte, war er komplexbeladen nach einer schwierigen Kindheit. Sein Vater war ein Halunke, Schürzenjäger und Trinker – er erhielt den Spitznamen Mad Jack – und hatte Byron und seine Mutter, kurz nachdem er sie wegen ihres Geldes geheiratet hatte, verlassen. Mrs. Gordon, Byrons Mutter, war fettleibig und – zumindest nach Aussage ihres Sohnes – eine jähzornige Wahnsinnige, die große Reden schwang. George Gordon Baron Byron war, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen, einer der höhergestellten Schüler in Harrow, doch sein Klumpfuß und die fragwürdige Erziehung waren für ihn Grund genug, sich immer wieder ins rechte Licht zu rücken.
»Bis dahin nicht schlecht«, befand Dr. Kahn, »aber das alles ist natürlich nichts Neues. Fahr fort.«
Andrew gehorchte.
Byron war auch in sexueller Hinsicht ungewöhnlich. Über seine physische Schönheit wurde viel berichtet. Es gab Hinweise darauf, dass er mit noch nicht einmal elf Jahren von einem Hausmädchen der Familie sexuell belästigt wurde und dass sich ein aristokratischer Nachbar, ein Lord Grey, in ihn verliebte, als er dreizehn war.
»Hauptsächlich Mutmaßungen«, bemerkte Dr. Kahn verdrossen. »Wenn auch nicht notwendigerweise unzutreffend.«
Harness andererseits war schwieriger zu beschreiben. Das, was man über ihn wusste, war hauptsächlich Byrons Briefen zu entnehmen. In Harrow war Harness ein zarter, kränklicher, blasser, aus ärmlichen Verhältnissen stammenderJunge aus der Gegend mit wundervoller Singstimme und großer Liebe zum Theater und zur Schauspielerei. Harness fiel Byron auf, weil er wie Byron selbst hinkte. (Ein Regal war ihm in seiner Kindheit in Northolt auf den Fuß gefallen.)
Weitere Kostenlose Bücher