Weißer Teufel
Byron empfand Mitgefühl, und seinen Briefen zufolge bot er ihm an: Falls dich irgendjemand schikaniert, sag es mir, und ich verprügle ihn, wenn ich kann. So fing es an. Harness’ Verletzung heilte schließlich aus. Sie taten sich zusammen . In diesem Punkt sind die Informationen ziemlich vage … Andrew zögerte.
»Und?«, drängte Dr. Kahn.
»Darf ich die Lücken mit eigenen Spekulationen füllen?«, fragte Andrew unsicher.
Ihre Mundwinkel zuckten, als sie sich ein Lächeln verkniff. »Das ist eigentlich die Idee, Andrew.«
Andrew fuhr fort: »Das Lot war überfüllt und verwahrlost. Die beiden Schüler liebten sich. Harness stand unter ständigem Beschuss der anderen, weil er zum Stadtpöbel gehörte. Deshalb nahmen die beiden im einzigen Raum des Hauses Zuflucht – in dem Zisternenkeller –, in dem sie ungestört proben konnten oder …«
»Ja?«, drängte Dr. Kahn weiter.
»Sie wissen schon. Sie haben rumgemacht.«
»Das brauchen alle Teenager. Einen Ort, an dem sie sexuell experimentieren können.«
»Richtig. Aus diesem Grund kehrt Harness dorthin zurück. Als Geist. Es ist sein Geheimversteck.«
Dr. Kahn wurde streng. »Aber es gab eine Menge Schüler, die solche Affären hatten. Und es kommen nicht alle zurück, um auf dem Hill zu spuken. Sonst würde sich eine Menge auf der Straße zusammenrotten, und wir kämengar nicht mehr durch. Was macht diese Liebschaft so speziell?«
Andrew war ratlos. »Ich weiß es nicht.«
»Ich habe einen Grundsatz«, sagte sie. »Er mag dumm erscheinen, aber er hilft mir bei meinen Nachforschungen sehr oft. Möchtest du ihn hören?« Er bejahte. »Such zuerst den Kern und erst dann den Anfang.« Sie zwinkerte. »Beschränke dich nicht auf die chronologische Abfolge. Finde den wichtigsten Teil ihrer Geschichte, darauf kannst du dann aufbauen. Wo haben sie die Liebe am stärksten gefühlt?«
»Im Zisternenkeller.«
»Aber das war nur in Harrow.«
Schweigen.
»Um Gottes willen, Andrew, willst du sagen, du hast nur diese Bücher gelesen. Sind dir die Markierungen, mit denen ich Byrons Briefe versehen habe, nicht aufgefallen?«
»Diese Briefe sind später geschrieben worden«, protestierte er. »Zum Beispiel 1807.«
»Du passt nicht richtig auf«, schalt sie ihn. Und zu Andrews Überraschung kam sie auf ihn zu, beugte sich über ihn, schlug die Bücher vehement auf und klopfte sie flach.
»Vorsicht mit den Büchern!«, rief er und zog sich ein wenig zurück, um sich in Sicherheit zu bringen.
»Diese werden nach wie vor gedruckt«, erwiderte sie. »Bloße Informationen.«
Andrew, rügte sie, beschränke sich zu sehr auf die Zeit in Harrow. Dabei könne er die Antwort in der Cambridge-Periode finden, wo Byron immatrikuliert war und Harness ihm nachfolgte.
»Da«, sagte sie und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Seite.
Andrew las:
AN E LISABETH P IGOTT , 1806 (eine Freundin aus Kindertagen, die ihn nicht verurteilen würde, erläuterte Dr. Kahn)
Er hängt wahrscheinlich mehr an mir als ich an ihm. Während meines ganzen Aufenthalts in Cambridge haben wir, Harness und ich, uns jeden Tag getroffen, Sommer wie Winter, ohne auch nur einen ermüdenden Augenblick zu erleben, und uns jedes Mal mit wachsendem Widerwillen getrennt. Ich hoffe, Du wirst uns eines Tages zusammen erleben. Er ist das einzige Wesen, das ich schätze, obwohl ich viele andere gernhabe. Er hat mir gerade in der vergangenen Woche einen Ring geschenkt, einen Karneol, den er aus eigener Tasche bezahlt hat. Er hat ihn mir furchtsam dargeboten, als könnte ich ihn zurückweisen. Ich war weit davon entfernt und sagte lediglich, meine einzige Besorgnis wäre, dass ich ein so kostbares Liebespfand verlieren könnte.
»Was sagt dir das?«, wollte Dr. Kahn wissen.
»Er schätzt Harness.«
»Unsinn«, explodierte sie. »Harness hat ihm einen Ring geschenkt! Mit einem zweitklassigen Stein, aber er hat ihn mehr gekostet, als er sich leisten konnte, und er wäre beinahe in Ohnmacht gefallen vor Angst, als er ihn Byron überreichte. Und wann schenkt man sich einen Ring, Andrew ?«
»Wenn man heiratet«, antwortete er verdruckst.
Sie blätterte wütend in einem anderen Buch, in einem Gedichtband, und las vor: » Da ist eine Stimme, deren Ton so zärtliche Gefühle in meiner Brust weckt. Ich würde einenEngelschor nicht hören …« Harness war Schauspieler mit einer wundervollen Singstimme, erinnerst du dich? Damit hat der das Stipendium in Harrow und in Cambridge bekommen: im Chor. Schön, sehen
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