Weisses Gold
trieb er sein Dromedar mit einem Stock durch steiniges Gelände und ausgetrocknete Flussläufe. Kurz vor dem Morgengrauen tauchte sein Ziel am Horizont auf. Im Licht eines schmalen Mondes schimmerten in der Ferne die Tore und Minarette von Fes. Es war der Morgen des 14. April 1672.
In der Stadt angelangt, ritt der Bote durch den Suk – das Marktviertel – und hielt sein Dromedar erst vor dem eisernen Tor der Residenz des Vizekönigs an. In den Höfen des verschwiegenen Palastes blühten Orangenbäume. Nachdem der Bote dem verschlafenen Torwärter seine Mission erklärt hatte, wurde er eingelassen und suchte sofort den amtierenden Vizekönig der Stadt auf.
Der 26-jährige Mulai Ismail war nicht für ein heiteres Gemüt bekannt, aber er musste lächeln, als er die Botschaft hörte, die ihm an diesem Morgen überbracht wurde. Sein Bruder, der regierende Sultan, war tot, Opfer seiner eigenen Unmäßigkeit. Er hatte das Ende des Fastenmonats Ramadan mit gewohnter Maßlosigkeit gefeiert, mit seinen Freunden gezecht und tief in die verbotene Flasche geschaut. Dann war er zu einem Ausritt in den Gärten seines Palastes in Marrakesch aufgebrochen – und vom Pferd gefallen, wobei er sich »seinen Schädel am Ast eines Baums zerschlagen« hatte. Als ihm seine Diener zur Hilfe eilten, war Sultan Mulai al-Raschid bereits verblutet.
Mulai Ismail wusste, dass er rasch und entschlossen handeln musste. Er hatte nicht weniger als 83 Brüder und Halbbrüder, zu denen ungezählte Neffen und Vettern kamen. Obwohl Ismail zu den vorrangigen Thronprätendenten zählte, würde der Tod eines marokkanischen Sultans zweifellos Unruhen auslösen und zum Brudermord führen. Die verschiedenen Thronanwärter würden versuchen, ihre Widersacher raschauszuschalten. Der Ausgang dieser Gewaltorgien war kaum vorhersehbar, und es war höchst ungewiss, ob der höchstrangige Thronerbe auch die Oberhand behalten würde.
Der erste Schachzug Mulai Ismails bestand darin, den in Fes aufbewahrten Schatz in seine Gewalt zu bringen. Danach rief er unverzüglich sich selbst zum Sultan aus und feierte seinen ersten Tag an der Macht angeblich damit, dass er jedermann in der Stadt, der sich seiner Herrschaft nicht unterwerfen wollte, niedermetzeln ließ.
Täuschung und Betrug waren Mulai Ismail in die Wiege gelegt. Er war in einem in mehrere Königreiche zersplitterten Land aufgewachsen, in dem interne Fehden zwischen bis aufs Blut verfeindeten Rivalen an der Tagesordnung waren. Unentwegt schlachteten brutale Kriegsfürsten, Söldner und fanatische heilige Männer ihre Widersacher ab, um kleine Despotien zu errichten. Als Machtbasis dienten ihnen Zitadellen mit Lehmmauern, von denen aus sie eine Zeitlang unbeschränkte Herrscher über alles Leben in ihrer Reichweite waren. Sie plünderten und raubten erbarmungslos und hielten sich Scharen europäischer Sklaven, die ihnen ein einigermaßen prunkvolles Leben ermöglichten – so lange, bis sie verweichlichten und von einem anderen, weniger liederlichen kleinen Fürsten gestürzt wurden.
Das Erbland von Mulai Ismail lag in den öden Weiten des Tafilalt im südlichen Marokko. Dies war ein »extrem sandiges und karges Land«, wie der französische Sklave Germain Mouette berichtete, »was an der übermäßigen Hitze liegt, die dort das ganze Jahr herrscht«. Die Einwohner dieses staubigen, verlorenen Winkels, die Mouette als »wildes, zügelloses und grausames Volk« bezeichnete, kämpften hart für ihren Lebensunterhalt.
Die Familie von Mulai Ismail übte im Tafilalt seit Jahrhunderten eine sorglose und träge Herrschaft aus und erwachte nur aus ihrer Lethargie, wenn wieder einmal ein Rivale ermordet oder ein Eindringling vertrieben werden musste. Ihre Macht reichte nicht über die Oasen in der Wüste hinaus, und es gab kaum Hinweise darauf, dass sie schon bald in den imperialen Palästen von Fes und Marrakesch residieren würde. Doch es war eine Familie von edler Herkunft mit einem illustren Stammbaum. Einer ihrer Vorfahren, al-Hasan bin Kasem, war ein
Scharif
gewesen, ein Nachkomme des Propheten. Dies verlieh dieser Familie eine heilige Würde, die sich Mulai Ismail später geschickt zu Nutzen machte.
Viele räuberische Herrscher in Marokko befehligten kleine Armeen europäischer Sklaven und Renegaten, und Ismails Familie war keine Ausnahme. Er selbst hatte im Alter von nur drei Jahren seinen ersten Sklaven geschenkt bekommen. Don Louis Gonsalez war ein portugiesischer Kavallerieoffizier, der während des
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