Weisses Gold
In der Wüstenstadt Marrakesch stand der phantastische Palast der Saaditendynastie. Die Sultane aus diesem Haus hatten ein Vermögen ausgegeben, um die Hauptstadt ihres Reiches zu verschönern. Das Ergebnis war der Al-Badi-Palast (der Wunderbare), dessen außergewöhnliche Schönheit Ismail nicht mehr losließ. »Alle anderen Paläste wirken hässlich dagegen«, schrieb ein Besucher. »Dieser hier wirkt märchenhaft, sein Wasser ist rein, sein Erdreich duftet und seine Mauern streben stolz gen Himmel.« Das Innere des Palastes war mit Goldstaub überzogen, derdurch die Sahara aus den sagenhaften Städten Dschenne und Timbuktu herbeigeschafft worden war. Die Böden bedeckte schimmernder Marmor. Ein spanischer Botschafter schilderte nach einem Besuch in al-Badi im Jahr 1579 fassungslos die unschätzbar wertvolle Seide, den kostbaren Damast, die glitzernden Springbrunnen und die türkischen Teppiche.
Mulai Ismail war ähnlich verzückt: Der Badi-Palast war eine Welt für sich, die der staubigen Kasbah, in der man sie errichtet hatte, weit entrückt war. Der Anblick der gesprenkelten Höfe und schattigen Pavillons blieb dem Besucher unvergesslich und bewog ihn dazu, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das das Leben tausender Europäer verändern sollte. Bald nachdem er den Thron erobert hatte, ließ der Sultan einen gewaltigen Palast errichten, neben dem sogar der sagenhafte al-Badi verblassen sollte.
Mulai Ismail hegte auch größenwahnsinnige Träume von einer Wiedergeburt des maghrebinischen Königreichs, das den europäischen Mächten ebenbürtig sein würde. Er begriff, dass er gewaltigen Druck auf die christlichen Mächte ausüben könnte, wenn es ihm gelänge, eine große Zahl weißer Sklaven in seine Gewalt zu bringen. Dadurch könnte er die europäischen Monarchen erpressen und dazu bringen, Gesandte mit Bittgesuchen nach Meknes zu schicken.
Der Sultan vertraute darauf, dass ihn die Korsaren von Salé mit einem stetigen Strom von Gefangenen aus dem Nordatlantik und dem Mittelmeer versorgen würden. Aber es gab noch eine weitere Möglichkeit, in den Besitz von europäischen Sklaven zu gelangen. Entlang der Küste des Maghreb lagen Enklaven und befestigte Siedlungen, die von spanischen und portugiesischen Garnisonen geschützt wurden. Die Spanier hielten die Städte Ceuta, Larache, Mamora und Arsila, während die Portugiesen Masagan kontrollierten. Tanger, ihr zweites Bollwerk im Maghreb, hatte die portugiesische Infantin Katharina von Braganza im Jahr 1661 als Mitgift in die Ehe mit König Karl II. von England eingebracht. Diese Enklaven hatten eine Bevölkerung von insgesamt 10 000 Soldaten und Zivilisten, die Mulai Ismail in seine Gewalt bringen und versklaven wollte.
Besonders verlockend schien ihm die Idee eines Angriffs auf Tanger, das die Meerenge von Gibraltar beherrschte. Die Engländer hatten gehofft, den Hafen als Ausgangsbasis für einen Feldzug gegen Salé nutzen zu können, was sich jedoch als Illusion erwies. Auch war es der Garnisonnicht gelungen, die Korsaren daran zu hindern, weitere Engländer gefangen zu nehmen. Statt Vorstöße auf marokkanischem Boden durchzuführen, sahen sich die englischen Truppen einer wachsenden Bedrohung durch den kriegerischen Sultan ausgesetzt.
In den letzten Tagen des Jahres 1677 befahl Mulai Ismail seinem zuverlässigen Kommandanten Kaid Omar, Tanger anzugreifen. Kaid sollte möglichst viele Gefangene machen und in Ketten nach Meknes schicken. Zudem sollte er versuchen, die Stadt einzunehmen. Mulai Ismail war fest davon überzeugt, dass das Vorhaben gelingen würde, denn die englischen Soldaten waren halb verhungert und von Krankheiten geschwächt. Doch Kaid Omar musste feststellen, dass die Stadt sehr viel schwerer zu erobern war als zu verteidigen. Seine Aussichten, die 2000 Mann starke Garnison von Tanger zu überwältigen, schwanden zusehends.
An einem bitterkalten Morgen im Januar 1681 eilte ein junger englischer Offizier auf der Festungsmauer von Tanger auf und ab. Oberst Percy Kirke war eine einigermaßen auffällige Erscheinung, wie er da in seiner extravaganten Uniform umherstolzierte. Er trug einen langen Mantelrock mit geschlitzten Schulterspangen. Sein Hemd hatte eine Spitzenkrause und war mit Rüschenschärpen verziert. Doch was den Offizier vollends in einen Gecken verwandelte, waren die feinen Seidenbänder, die er sich um die Knie geschnürt hatte.
Unter normalen Umständen hätte es der Oberst nicht gewagt, in seiner Paradeuniform den Kopf
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