Weisses Gold
befahl, ihnen eine Woche lang die Rationen zu verweigern. Als sievor Hunger schrieen, schickte er sie auf den langen Marsch nach Meknes.
Einer dieser Sklaven, ein Mann namens Jean Ladire, erzählte seine traurige Lebensgeschichte später dem französischen Geistlichen Dominique Busnot. Zu diesem Zeitpunkt fristete Ladire bereits mehr als drei Jahrzehnte ein Sklavendasein, doch er erinnerte sich immer noch lebhaft an jenen entsetzlichen Marsch. Von Tarudant nach Meknes waren es fast 300 Meilen, und viele der gefesselten Gefangenen litten unter einer Krankheit, die sie entkräftete – vermutlich an der Ruhr. Viele von ihnen starben an Erschöpfung, und die Überlebenden wurden gezwungen, »die Köpfe der Toten zu tragen, die diesen von ihren Wärtern abgeschnitten worden waren, weil sie fürchteten, man könne sie beschuldigen, sie hätten die Sklaven verkauft oder fliehen lassen«.
Nach fünfjährigen Kämpfen und Unruhen hatte Mulai Ismail einen Großteil Marokkos unter seine Kontrolle gebracht. Selbst die Korsaren von Salé, die ein Stachel im Fleisch mehrerer Sultane gewesen waren, erkannten, dass sie in diesem Mann ihren Meister gefunden hatten. Da sie sich vor Mulai Ismails wachsender Macht fürchteten, zogen sie es vor, sich seiner Herrschaft zu unterwerfen. Doch wie sich herausstellte, hatte der Sultan keineswegs die Absicht, sie zu entwaffnen. Er hatte Pläne mit ihnen. Die Korsaren sollten Werkzeuge seiner Macht werden und ihn mit einem stetigen Nachschub an Arbeitssklaven versorgen.
Als Mulai Ismail den Eindruck gewonnen hatte, dass seine Macht gefestigt war, kehrte er in die Provinzstadt Meknes zurück, wo er sich »sü ßer Muße und ausschweifendem Laster« hingab. Und er wandte sich dem Wiederaufbau eines Landes zu, das sich in einem desolaten Zustand befand. Marokko schwankte seit Jahrhunderten zwischen außerordentlichem Reichtum und katastrophalem Verfall. Und zu Mulai Ismails Zeit durchlebte es eine dunkle Phase. Ehemals fruchtbare Felder lagen brach, und zügellose Gewalt und Hungersnöte hatten die imperialen Städte ihres einstigen Glanzes beraubt.
Fes war seit jeher die prachtvollste Stadt des Königreichs. Um das Jahr 1513 war Leo Africanus noch von dieser herrlichen, großen Stadt beeindruckt gewesen: »Eine Welt ist sie, so groß, so bevölkert, so gut befestigt ist diese Stadt.« In seiner Glanzzeit war Fes die großartigste Stadt im Westen der islamischen Welt. Die üppigen Paläste der reichen Kaufleute verbargen in ihrem Inneren malerische schattige Gärten, wosich die Bewohner in Pavillons und Teehäusern entspannten. Das Herz jedes Gartens bildete »ein Brunnen, in dem inmitten von Rosen und anderen duftenden Blumen und Kräutern im Frühjahr kristallklares Wasser sprudelt, um das Auge zu verzücken und die Seele zu trösten«.
Zu der Zeit, da Africanus die Stadt besuchte, gab es in Fes 700 Moscheen sowie zahlreiche Schulen und Madrassen. Dazu kamen Krankenhäuser, Bäder und 200 Fonduks (Gasthäuser). Africanus, der ganz Europa bereist hatte, war beeindruckt: »Ich kann mich nicht entsinnen, je großartigere Gebäude gesehen zu haben, ausgenommen das spanische Kolleg in Bologna oder der Palast des Kardinals San Giorgio in Rom.«
Zum Zeitpunkt von Mulai Ismails Machtergreifung war Fes einem erschreckenden Verfall preisgegeben. Viele ehemals großartige Paläste lagen in Ruinen, und die andalusischen Gärten waren vollkommen verwahrlost. Ein unbekannter englischer Besucher schrieb um 1680, ganze Stadtviertel seien verlassen und die Gelehrten und Theologen seien vor langer Zeit geflohen. »Frühere Zeiten haben die Ehre gehabt, diese ruhmreiche Stadt in großer Schönheit vorzufinden«, heißt es in diesem Bericht, »aber die Zeit hat ihr übel mitgespielt und sie derart entstellt, dass ihre Gründer sie nicht wiedererkennen würden.«
Der Autor fügte hinzu, die verfallenden Ruinen sprächen zwar für den Einfallsreichtum der marokkanischen Architekten, aber »dieses Volk hat die wahre Religion, das Lernen und jegliche Kunst aufgegeben, so dass es in einem weiteren halben Zeitalter ein Haufen von Abfall und Verwirrung sein wird«.
Doch nicht alles in Marokko lag in Trümmern, als Mulai Ismail den Thron bestieg. Als er durch sein gerade erobertes Königreich reiste, bekam er die Überreste der einstigen architektonischen Pracht zu Gesicht. Unter der Ägide der mittelalterlichen Merenidenkönige und der Saaditen im 16. Jahrhundert waren viele großartige Monumente errichtet worden.
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