Weißglut
Lassen Sie uns nicht allzu lange auf das Abendessen warten, okay?«
George nickte, zögerte, als wüsste er nicht recht, wie er die Besprechung beenden sollte, wandte sich dann um und huschte aus dem Raum.
»Jesus«, murmelte Chris. War es ein Wunder, dass Lila vögelte, als gäbe es kein Morgen?
»Mein Mann starb letztes Jahr.« Mrs. Loretta Foster bekreuzigte sich, während sie Sayre vom Dahinscheiden ihres Gatten in Kenntnis setzte. »Gott sei seiner Seele gnädig.«
»Das tut mir leid. War er krank?«
»Keinen einzigen Tag lang. Er fiel einfach tot um, als er sich in der Küche eine Tasse Kaffee einschenken wollte. Eine Lungenembolie. Der Arzt versicherte mir, er sei schon tot gewesen, ehe er auf dem Boden aufschlug.«
»Ein so plötzlicher Tod ist ein Schock.«
Mrs. Fosters in Dauerwellen betoniertes Haar wackelte unter ihrem Nicken auf und ab. »Er ist eine Erlösung für den, der sich verabschiedet. Kein Getue, kein Brimborium.« Sie schnippte mit den Fingern. »Aber er ist schwer für die, die zurückbleiben. Jedenfalls bin ich jetzt mit meinem Jungen allein.«
Sie deutete zu ihrem Sohn hin, der auf dem Boden hockte und Zeichentrickfilme schaute. Der riesige Fernseher beherrschte das winzige Wohnzimmer des kleinen Häuschens. Ihr Sohn war völlig vertieft in die lustigen Späße von Rocky und Bullwinkle.
Mrs. Foster setzte ein Tablett mit einer Tüte Chips und einem Glas Orangensaft vor ihm ab, nicht ohne ihn zu ermahnen, vorsichtig zu sein und nichts auf dem Teppich zu verschütten. Er schien sie gar nicht zu hören und Sayre nicht einmal wahrgenommen zu haben, die mit seiner Mutter am Küchentisch saß und wie diese ein Glas mit süßem Eistee vor sich hatte.
Der »Junge« war weit über vierzig.
»Ich schätze, Sie haben schon gemerkt, dass er nicht ganz richtig ist.« Mrs. Fosters Flüstern drang kaum durch den infernalischen Lärm des Cartoons. »Er kam schon so zur Welt. Dabei hab ich bestimmt nichts falsch gemacht während meiner Schwangerschaft. Er kam einfach so aus mir raus.«
Sayre wusste beim besten Willen nicht, was sie darauf erwidern sollte, und sagte: »Vielen Dank, dass Sie heute Nachmittag Zeit für mich haben.«
Mrs. Fosters Lachen brachte ihren ausladenden Busen zum Beben. »Wir gehen sowieso nirgendwohin und unternehmen auch nichts. Abgesehen vom Sonntag, wo wir zur Messe gehen, ist bei uns ein Tag wie der andere. Solange um halb sechs das Abendessen auf dem Tisch steht, ist der Junge friedlich. Mehr tun wir nachmittags eigentlich nicht, deshalb bin ich froh, wenn mir jemand Gesellschaft leistet und ich ein wenig plaudern kann. Trotzdem bin ich ein bisschen neugierig, warum Sie mich besuchen.«
Loretta Fosters Name stand auf der Liste, die Sayre dank Jessica DeBlances Verbindungen zum Gericht erhalten hatte.
»Ich kenne eine Frau, die in der Finanzabteilung unseres Parish arbeitet«, hatte Jessica geantwortet, als Sayre sie um einen Gefallen gebeten hatte. »Wir sind nicht besonders eng befreundet, aber ich glaube, sie könnte uns helfen. Was genau brauchen Sie?«
Gefragt hatte Sayre nach einer Liste der Geschworenen, die bei Chris’ Verhandlung in der Jury gesessen hatten. Die Bekannte im Gericht war bereit gewesen nachzusehen, ob es eine solche Liste gab, und hatte um ein paar Stunden Zeit gebeten.
Sayre traf sich zum vereinbarten Zeitpunkt mit ihr und bekam die Liste ausgehändigt. »Das war leichter, als ich dachte«, erklärte ihr die Frau. »Die Listen der Geschworenen werden aufbewahrt, weil jemand, der innerhalb einer bestimmten Frist erneut zum Geschworenen berufen wird, nicht anzutreten braucht. Und wenn ein Geschworener entlassen wird, trägt man das Aktenzeichen des Falles in seine Geschworenenakte ein, damit man es notfalls wieder nachschlagen kann.«
Als Sayre am Vorabend zu Beck Merchant gefahren war, hatte sie diese Namensliste als Ass im Ärmel dabeigehabt. Nur hatte keine Gelegenheit bestanden, ihre Karte auszuspielen. Am Morgen war sie wieder zum Gericht gefahren und hatte dort anhand der Steuerakten ermittelt, dass zehn der zwölf Geschworenen noch in diesem Parish lebten.
Die ersten beiden, die sie anrief, erklärten ihr ohne Umschweife, dass sie nicht mit ihr sprechen wollten, und legten kurzerhand wieder auf. Die Frau des dritten Geschworenen teilte ihr mit, dass ihr Mann in der Gießerei auf Schicht arbeitete. Als Sayre ihr eröffnete, weshalb sie anrief, wurde die anfangs so zuvorkommende Frau abweisend und, als Sayre nicht
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