Weißglut
beide nahmen einen Schluck. »Sie sehen gut aus«, bemerkte Red. »Wie fühlen Sie sich?«
»Als wäre ich zwanzig.«
»Ich hab vergessen, wie sich das anfühlt.«
»Ich weiß es noch wie gestern«, erwiderte Huff. »Damals arbeitete ich für den alten Lynch in der Gießerei. Mein Job war es, den Schmelzofen zu beladen. Eine Knochenarbeit, aber ich schob bei jeder Gelegenheit Doppelschichten. Schon damals hatte ich große Pläne mit dem Laden.«
In der Schule des Waisenhauses war streng darauf geachtet worden, dass die Kinder lernten, und wenn Huff für etwas dankbar sein konnte, dann dafür. Nach wenigen Monaten im Heim hatte er die anderen Kinder in seinem Alter eingeholt. Statt Ball zu spielen oder den Mädchen nachzujagen, wie er es sich ausgemalt hatte, als er noch voller Ideale und unschuldig gewesen war, verbrachte er die Pause im Klassenzimmer, wo er den gelernten Stoff wiederholte. Er hatte sich inzwischen höhere Ziele gesteckt, darum beschränkte er sich darauf, so schnell wie möglich so viel wie möglich aufzunehmen.
Jede Nacht las er im Schein der schwachen Nachtleuchte in der Gemeinschaftstoilette, wo er auf dem harten Fliesenboden saß, im Sommer schwitzend, im Winter bibbernd. Das Essen schmeckte grausig, aber er leerte bei jeder Mahlzeit seinen Teller und begann, dank der regelmäßigen Verpflegung, endlich zu wachsen.
Als er mit dreizehn abhaute, war er seinen Altersgenossen hinsichtlich seiner Körpergröße weit voraus und wusste bestimmt doppelt so viel wie sie. Den Rest seiner Bildung, und damit die womöglich wichtigsten Lektionen, absolvierte er durch Erfahrung. Während andere Teenager seines Alters wegen eines Pickels aus der Fassung gerieten, überlebte er auf eigene Faust, schlug sich mit Gewitztheit durchs Leben und besorgte sich selbst Nahrung und Unterkunft.
Er war in einem Güterwaggon irgendwohin unterwegs gewesen, als der Zug in Destiny hielt, um mehrere Waggons mit Altmetall für Lynchs Gießerei abzukoppeln. Huff wusste nicht einmal, in welchem Staat er sich gerade befand, aber als er auf dem Wasserturm den Namen des Ortes las, erschien er ihm wie ein Omen.
In Sekundenschnelle hatte er beschlossen, dass er in Destiny, wie der Name schon sagte, seine Bestimmung finden würde.
Er hatte keinerlei Erfahrung im Gießen von Metall, aber Lynchs Gießerei war das einzige Werk im Ort und das einzige Unternehmen, das Arbeitskräfte einstellte. Huff lernte schnell, und schon bald war Mr. Lynch auf ihn aufmerksam geworden.
»Mit fünfundzwanzig war ich seine rechte Hand«, erklärte er Red jetzt. »Die nächsten Jahre brachte ich damit zu, ihm wenigstens etwas Geschäftssinn einzuimpfen.«
Der Gentleman, der schließlich Huffs Schwiegervater werden sollte, war kein Visionär gewesen. Er hatte von seinem Geschäft, wie er es nannte »verflixt gut gelebt«, und das hatte ihm vollauf genügt. Sein beschränkter Ehrgeiz war ein Quell ständiger Frustration für Huff, der einen wachsenden Markt vor sich sah und erkannte, dass das Potenzial, diesen Markt zu versorgen, hier vergeudet wurde.
Das hatte zu endlosen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden geführt. Erweiterungen und Produktionssteigerungen standen nicht auf Mr. Lynchs Agenda. Er war ein Mann des Mittelmaßes. Huff hingegen hatte unbegrenzte Energien und grandiose Pläne. Mr. Lynchs Einstellung zum Geld war ultrakonservativ. Huff beherzigte das ökonomische Gebot, dass man Geld ausgeben muss, um welches zu verdienen.
Nur eines stand für beide Seiten felsenfest: dass Mr. Lynch die Geldbörse zuhielt und Huff abgesehen von seinem wöchentlichen Salär keinen Penny ausgeben durfte. Infolgedessen kam es letztendlich allein auf Mr. Lynchs Meinung an.
Erst ein Schicksalsschlag sollte Huff neue Möglichkeiten eröffnen. Als ein Gehirnschlag den alten Herrn außer Gefecht setzte, übernahm Huff die Kontrolle über die Produktion. Wer sich seiner Machtübernahme tapfer in den Weg stellte, wurde kurzerhand gefeuert. Obwohl Mr. Lynch während seiner drei letzten Lebensjahre kaum ein verständliches Wort herausbrachte und kaum einen Schritt vor den anderen setzen konnte, erlebte er noch, wie die Umsätze und Gewinne seines Unternehmens sich vervierfachten und die Alleinerbin, seine Tochter Laurel, jenen Mann heiratete, der dieses Wachstum ermöglicht hatte.
»Als der alte Lynch starb, war ich dreißig«, sagte Huff zu Red. »Zwei Jahre später habe ich das Unternehmen nach mir benannt.«
»Sie hatten schon immer ein
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