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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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du gerannt?, fragte William K.
    Ich zeigte in die Richtung, aus der ich soeben gekommen war. William K war in die entgegengesetzte Richtung gerannt, war aber bald darauf stehen geblieben und hatte sich zwischen den Wurzeln eines Affenbrotbaums versteckt.
    – Hast du gehört, was passiert ist? Was das Grollen war, die Lichter?, fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf.
    – Das waren wir. Es war nichts.
    Es hatte in der Nacht keinen Angriff gegeben. Keine Gewehre, keine Schüsse. Es war bloß ein Land Rover gewesen, der durch die Nacht fuhr. Keiner wusste, wessen Wagen es war, aber er gehörte auf keinen Fall dem Feind. Vielleicht war es sogar ein Wagen mit Hilfsgütern.
    Als Dut später am Vormittag zurückkam und uns zusammenrief, war er aufgebracht.
    – Ihr könnt nicht einfach bei jedem Geräusch in der Nacht auseinanderrennen.
    Wir waren alle zu verwirrt, um ihm zu widersprechen.
    – Wir haben letzte Nacht zwölf Jungen verloren. Wir wissen, dass drei davon tot sind, weil sie in Brunnen gefallen sind. Zu viele Jungen sind in Brunnen gefallen. Das ist ein schlimmer Tod, Jungs. Die anderen sind Gott weiß wohin gelaufen.
    Ich gab ihm Recht, in einen Brunnen zu fallen, war ein schlimmer Tod, aber ich wusste auch, dass wir nur deshalb so kopflos geflohen waren, weil sein Stellvertreter Kur es uns befohlen hatte. Doch zu diesem Zeitpunkt war nichts mehr klar. Noch vor einer Stunde war ich bei dem rundbäuchigen Mann und seinem Fahrrad gewesen, und nun wusste ich nicht mehr recht, ob er überhaupt real gewesen war. Ich erzählte niemandem von ihm.
    Das Essen hatte mir Kraft gegeben, ebenso wie das Geheimnis des rundbäuchigen Mannes, und doch war ich mir relativ sicher, dass ich bald sterben würde. Die Wunde an meinem Bein, das Loch, das der Stacheldraht mir in den Unterschenkel gerissen hatte, war sehr groß, ein diagonaler Riss vom Knie abwärts bis unter die Wade. Den ganzen Tag hindurch blutete die Wunde schwach, und selbst William K gab zu, dass das meinen Tod bedeuten könnte. Unserer Erfahrung nach starben die meisten der Jungen, die größere Verletzungen hatten. An dem Tag und den Tagen danach mieden die Jungen, nachdem sie die Wunde gesehen hatten, meine Nähe, weil sie vermuteten, dass die Krankheit sich bereits eingenistet hatte und mich allmählich von innen zerfraß.
    William K wusste, dass ich mich fürchtete, und versuchte, mich zu beruhigen.
    – In Äthiopien werden sie die Wunde ganz schnell heilen. Das sind die besten Ärzte überhaupt. Du wirst dir dein Bein ansehen und sagen: Was ist passiert? War da nicht eben noch eine Wunde? Aber sie wird weg sein. Die lassen sie einfach verschwinden.
    Ich lächelte, obwohl ich Angst bekam, wenn ich William K ansah. Er sah sehr krank aus, und er war mein einziger Spiegel. Wir konnten uns nicht selbst sehen, deshalb schloss ich aus dem Aussehen der anderen Jungen, vor allem aus dem William Ks, wie es um meinen eigenen Zustand bestellt war. Wir aßen das Gleiche und hatten einen ähnlichen Körperbau, also beobachtete ich ihn, um mir darüber klar zu werden, wie dünn ich geworden war, wie tief meine Augen inzwischen lagen. An diesem Tag sah ich nicht gut aus.
    – In Äthiopien werden die Leute praktisch nie krank, erzählte William K weiter, – weil das Wasser und die Luft da irgendwie anders sind. Klingt seltsam, stimmt aber. Die Leute dort werden nicht krank, es sei denn, sie sind sehr dumm. Und denen helfen dann ja die Ärzte. Die Ärzte sagen, wie dumm von dir, dass du hier krank geworden bist, wo sonst kein Mensch krank wird! Aber ich werde dich trotzdem heilen, weil wir in Äthiopien sind, und so ist das hier nun mal. Das hat Dut mir letzte Nacht erzählt. Du hast geschlafen.
    William war ein hoffnungsloser Lügner, aber das gefiel mir.
    – Können wir uns mal kurz ausruhen?, fragte er.
    Ich war froh, einen Moment zu rasten. Normalerweise konnten wir so lange sitzen bleiben, bis wir uns besser fühlten, und dabei die Kolonne der anderen im Blick behalten. Nachdem William und ich einige Minuten lang zugesehen hatten, wie die Jungen vorbeischlurften, waren wir etwas gestärkt und gingen weiter.
    – Ich fühle mich heute anders, sagte er. – Schwindeliger, glaube ich.
    Meine Knochen schlotterten bei jedem Schritt, und ich spürte ein seltsames Prickeln im linken Bein, eine jähe Kälte, die jedes Mal hochschoss, wenn ich die Ferse aufsetzte. Aber William tat mir gut, und ich ließ ihn weiterreden, über meine Wunde und Äthiopien und auch darüber, wie

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