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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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an den Mund. Das Wasser war so kalt, so fantastisch kalt. Ich konnte die Augen nicht schließen, ich konnte kaum schlucken. Ich trank das kalte Wasser und spürte, wie es mir die Kehle hinabrann, mich direkt unter der Haut benetzte und dann innen in der Brust und in Armen und Beinen. Es war das kälteste Wasser, das ich je getrunken hatte.
    Ich probierte es mit einer anderen Frage. – Wo sind wir? Der Mann nahm mir den Kanister ab und stellte ihn wieder unter die Erde.
    – Wir sind in der Nähe eines Ortes namens Thiet. Da ist deine Gruppe durchgekommen. Viele Gruppen ziehen durch Thiet.
    – Dann lebst du in Thiet?
    – Nein, nein. Ich lebe nirgendwo. Das hier ist nirgendwo. Wenn du von hier weggehst, wirst du nicht wissen, woher du gekommen bist. Ich will, dass du jetzt schon vergisst, wo du bist. Hast du verstanden? Ich bin nirgends, und das hier ist das Nirgendwo, und deshalb bin ich noch am Leben.
    Wenige Augenblicke zuvor war ich dem Mann dankbar gewesen und hatte überlegt, ihn zu fragen, ob ich für immer bei ihm bleiben könne. Doch jetzt war ich sicher, dass der Mann den Verstand verloren hatte und dass es besser war, wenn ich wieder ging. Es war eigenartig, dass ein Mann eine gewisse Zeit lang normal sprechen konnte, nur um sich dann als verrückt erweisen. Das war, als ob man eine faule Stelle unter der makellosen Haut einer Frucht entdeckte.
    – Ich muss zurück zu meiner Gruppe, sagte ich und stand auf.
    Bestürzung breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus.
    – Setz dich. Setz dich. Ich habe noch mehr. Magst du Orangen? Ich habe Orangen.
    Er griff erneut in das Loch, und diesmal verschwand sein Arm bis zur Schulter. Als seine Hand wieder auftauchte, hielt sie eine Orange, vollkommen rund und frisch. Er gab sie mir, und während ich sie verschlang, legte er den Teppich wieder über die Grube.
    – Ich lebe nirgendwo, und daraus solltest du etwas lernen. Was meinst du, warum ich noch lebe, Junge? Ich lebe, weil niemand weiß, dass ich hier bin. Ich lebe, weil es mich nicht gibt. Da draußen bringen sich alle gegenseitig um, und diejenigen, die sich nicht gegenseitig mit Gewehren und Bomben töten, die will Gott durch Malaria und Ruhr und tausend andere Dinge töten. Aber einen Mann, den es nicht gibt, kann auch keiner töten, nicht wahr? Also bin ich ein Geist. Wie soll man einen Geist töten?
    Ich wusste darauf nichts zu sagen, weil es den Mann doch ganz offensichtlich gab.
    – Schon allein durch diesen Kontakt mit dir habe ich mir jede Menge Probleme eingehandelt. Ich habe dir zu essen gegeben und ich habe dein Gesicht gesehen. Mich beruhigt nur der Gedanke, dass wahrscheinlich keiner nach einem Jungen wie dir suchen wird. Wie viele seid ihr wohl? Tausende?
    Ich sagte ihm, dass wir so viele waren, wie er sich vorstellen könne.
    – Es wird also niemandem auffallen. Wenn wir uns zu Ende unterhalten haben, schicke ich dich zu ihnen zurück, aber du darfst niemals verraten, wo du mir begegnet bist. Sind wir uns da einig?
    Ich sagte ja. Ich weiß nicht mehr, warum ich auf die Idee kam, den Mann nach dem Was zu fragen, aber ich dachte auf einmal, wenn irgendjemand eine Antwort darauf wüsste oder auch nur ein Vermutung hätte, dann dieser seltsame Mann, der mitten im Bürgerkrieg allein lebte, mit so vielen Vorräten, dass es ihm sogar richtig gut ging. Also fragte ich ihn.
    – Wie bitte?, sagte er.
    Ich wiederholte die Frage und erzählte ihm die Geschichte. Der Mann hatte die Geschichte noch nie gehört, aber sie gefiel ihm.
    – Was glaubst du, was das Was ist?, fragte er.
    Ich wusste es nicht. – Die AK-47?
    Er schüttelte den Kopf. – Ich glaube nicht, nein.
    – Das Pferd?
    Wieder schüttelte er den Kopf.
    – Flugzeuge? Panzer?
    – Bitte hör auf. Du denkst in die falsche Richtung.
    – Bildung? Bücher?
    – Das ist, glaube ich, nicht das Was, Achak. Ich glaube, du musst weiter danach suchen. Hast du noch eine andere Idee?
    Wir blieben eine Weile schweigend sitzen. Er spürte meine Ernüchterung.
    – Möchtest du das Fahrrad mal ausprobieren?, fragte er.
    Ich fand keine Worte für die Gefühle, die mich erfassten.
    – Damit hast du nicht gerechnet, was, kleiner Zuhörer?
    Ich schüttelte den Kopf. – Ist das dein Ernst?
    – Aber ja. Ich wusste nicht, dass ich dir das anbieten würde, bis ich es getan hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal jemand anderem mein Fahrrad anbieten würde, aber weil du auf dem Weg nach Äthiopien bist und vielleicht dabei sterben wirst, erlaube ich

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