Weit Gegangen: Roman (German Edition)
und am nächsten Tag würden wir schlafen, bis es wieder Nacht wurde.
– Es gibt Neuigkeiten über Äthiopien, begann William K.
– Bitte, sagte ich.
– Ja, es wird gemunkelt, die Sudanesen dort sollen sehr reich sein. Unser Volk wird von allen geachtet, und wir bekommen alles, was wir wollen. Jeder Dinka wird Häuptling. Das hab ich gehört. Wir werden also alle Häuptlinge, und wir bekommen, was wir wollen. Jedem von uns werden zehn Leute zur Verfügung gestellt, die uns alles besorgen, was wir brauchen. Wenn wir etwas essen wollen, sagen wir einfach, »Gib mir das zu essen« oder »Gib mir dies zu essen«, und dann müssen sie losflitzen und es für uns holen. Aber so schwer ist das gar nicht, weil es da ja überall Essen gibt. Aber Leute wie uns bewundern sie ganz besonders. Ich glaube, entscheidend ist, welchen Weg man hinter sich hat. Und weil wir den weitesten Weg hinter uns haben, dürfen wir uns aussuchen, wo wir wohnen wollen, und wir bekommen mehr Diener. Von uns kriegt jeder zwanzig.
– Du hast gesagt, es wären zehn.
– Ja, zehn ist normal. Aber für uns gibt es zwanzig, weil wir von so weit her kommen. Das hab ich doch gerade gesagt, Achak. Bitte hör zu. Du musst dir solche Dinge merken, sonst beleidigst du das äthiopische Volk. Ich bin nur traurig, dass Moses das nicht mit uns zusammen erleben wird. Aber vielleicht ja doch. Vielleicht ist Moses schon da. Ich wette, er ist schon da. Er hat es irgendwie dorthin geschafft und wartet auf uns, dieser glückliche Bursche.
Auch wenn ich manches von dem, was William K sagte, gelten lassen konnte, ich wusste, dass Moses nicht in Äthiopien war und es nie sein würde. Er war von einem berittenen Mann mit einem Schwert in die Enge getrieben worden, und sein Schicksal war besiegelt.
– Ja, sprach William K weiter, – Moses hat schon all die Sachen, die wir noch bekommen werden, und er lacht über uns. »Wieso brauchen die denn so lange?«, sagt er. Wir sollten uns beeilen, was, Achak?
William K klang nicht gut. Ich war froh, dass es Nacht war und dass ich William Ks eingesunkene Augen nicht sehen musste, seinen aufgeblähten Bauch. Ich wusste, dass ich auch so aussah, und es war doppelt beängstigend, William K zu sehen und mich selbst in ihm. In der finsteren Wüstennacht sahen wir kein Leiden, und die Luft war kühler.
– Sieh mal, sagte William K und fasste meinen Arm.
In der Ferne erhob sich der Horizont und malte eine gezackte Linie quer über den Himmel. Ich hatte noch nie ein Gebirge gesehen, aber da war es. William K war sicher, dass wir kurz vor dem Ziel waren.
– Das ist Äthiopien!, flüsterte er. – So früh hätte ich es nicht erwartet.
William K und ich waren weit hinten in der Reihe und konnten weder Dut noch Kur fragen, wo wir waren. Aber William Ks Erklärung war einleuchtend. Vor uns war eine große schwarze Silhouette, gewaltiger als jede Landmasse, die wir je gesehen hatten. Alle Elefanten dieser Welt hätten da hineingepasst. William K hatte jetzt beim Gehen einen Arm um meine Schultern gelegt.
– Wenn wir den Berg da erreichen, sind wir in Äthiopien, sagte er.
Ich konnte nicht widersprechen. – Ich glaube, du hast recht.
– War doch gar nicht so schlimm, Achak. Nach Äthiopien zu gehen war eigentlich keine große Sache. Findest du nicht? Jetzt, wo wir so nah dran sind, war es gar nicht so schlimm, oder?
Wir waren kurz vor dem Ziel, aber alles wurde schlimmer. An jenem Tag erreichten wir Äthiopien nicht und auch nicht am nächsten Tag. Wir schliefen zu jeder Tages-und Nachtzeit, weil wir kaum noch gehen konnten; unsere Füße waren bleischwer, unsere Arme fühlten sich wie losgelöst an. Die Wunde an meinem Bein hatte sich entzündet, und außer William K hatte ich keine Freunde. Keiner traute sich in meine Nähe, vor allem nicht nach der Sache mit dem Geier. Ich wachte aus einem frühmorgendlichen Schlaf und sah einen Schatten, der mir die Sicht versperrte, die Sonne verbarg. Zuerst dachte ich, Dut sei sauer auf mich, weil ich verschlafen hatte, und sei gekommen, um mich mit Tritten zu wecken. Aber dann hob die Gestalt plötzlich die Arme und wandte den Kopf, und ich sah, dass es ein Geier war. Er hüpfte auf mein gesundes Bein und nahm mein krankes Bein in Augenschein. Ich wich zurück, und der Geier krächzte und machte einen Satz nach vorn, auf mich zu. Er hatte keine Angst vor mir.
Das wurde für alle Jungen zum Problem. Wenn wir zu lange an einer Stelle blieben, kamen die Geier. Über eine Stunde in der
Weitere Kostenlose Bücher