Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Monaten hatten wir uns schrecklich weit von unseren Familien entfernt und sahen nicht mehr so aus wie früher. Und jetzt war William Ks Leben zu Ende gegangen, und sein Leichnam lag vor meinen Füßen.
Ich saß eine ganze Weile neben ihm. In meiner Hand wurde seine Hand wieder warm, und ich schaute in sein Gesicht. Ich scheuchte die Fliegen weg und weigerte mich, den Blick zu heben. Ich wusste, dass die Geier schon kreisten, und ich wusste, dass ich sie nicht daran hindern konnte, zu William K zu kommen. Aber ich beschloss, dass ich ihn begraben würde, dass ich ihn begraben würde, auch wenn ich dadurch meinen Platz in der Gruppe verlieren sollte. Nachdem ich den Toten und die Sterbenden der verirrten »Faust« gesehen hatte, glaubte ich nicht mehr an unseren Marsch oder an unsere Anführer. Es schien nur logisch, dass sich das, was einmal begonnen hatte, fortsetzen würde: Wir würden weitergehen und sterben, bis keiner von uns mehr übrig war.
Ich grub, so gut ich konnte, obwohl ich mich oft ausruhen musste. Vor Anstrengung wurde mir schwindelig und ich schnappte nach Luft. Ich konnte nicht weinen, mein Körper hatte nicht genug Wasser dafür.
– Achak, komm!
Es war Kur. Ich sah ihn in der Ferne winken. Die Gruppe hatte sich wieder versammelt und zog weiter. Ich beschloss, weder Kur noch sonst jemandem zu erzählen, dass William K tot war. Er gehörte zu mir, und ich wollte nicht, dass sie ihn anfassten. Ich wollte mir von ihnen nicht sagen lassen, wie ich ihn zu beerdigen oder zuzudecken habe oder dass er dort zurückbleiben solle, wo er lag. Ich hatte Deng nicht beerdigt, aber William K würde ich beerdigen. Ich winkte ebenfalls und rief Kur zu, dass ich bald nachkommen würde, dann grub ich weiter.
– Sofort, Achak!
Das Loch war kümmerlich, und ich wusste, dass William K nicht ganz hineinpassen würde. Aber es würde die Aasgeier eine Weile abhalten, so lange, dass ich weit genug wegkam, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sie über ihn herfielen. Ich legte Blätter auf den Boden des Lochs, so viele, dass er ein Kissen für den Kopf hatte und keine Erde mehr zu sehen war. Dann schleifte ich William K in das Loch und breitete Blätter über sein Gesicht und seine Hände. Ich beugte seine Knie und verschränkte seine Füße hinter den Knien, um Platz zu sparen. Nun musste ich mich wieder ausruhen, und ich setzte mich hin, empfand eine gewisse Befriedigung, dass er doch in das Loch passte, das ich gegraben hatte.
– Mach’s gut, Achak! rief Kur. Ich sah, dass die Jungen schon weg waren. Kur wartete noch einen Moment auf mich, dann wandte er sich ab.
Ich wollte William K nicht verlassen, ich wollte mit ihm sterben. Ich war in dem Augenblick so müde, so unendlich müde, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte einschlafen, so wie er es getan hatte, schlafen, bis mein Körper erkaltete. Aber dann dachte ich an meine Mutter und meinen Vater, meine Brüder und Schwestern und merkte, wie ich auf einmal William Ks mystische Bilder von Äthiopien beschwor. Die Welt war schrecklich, aber vielleicht würde ich meine Familie wiedersehen. Das reichte aus, um mich wieder auf die Beine zu bringen. Ich stand auf und entschied mich dafür, weiterzugehen, weiterzugehen, bis ich nicht mehr gehen konnte. Ich würde William K erst beerdigen, und dann würde ich den Jungen folgen.
Ich konnte nicht mit ansehen, wie die Erde auf William Ks Gesicht fiel, deshalb schob ich die erste Schicht mit der Ferse hinein. Sobald der Kopf bedeckt war, schob ich noch mehr Erde und Steine nach, bis die Stelle eine gewisse Ähnlichkeit mit einem richtigen Grab erreichte. Als ich fertig war, sagte ich William K, dass es mir leidtue. Es tat mir leid, dass ich nicht gemerkt hatte, wie krank er war. Dass ich keinen Weg gefunden hatte, ihn am Leben zu halten. Dass ich der letzte Mensch war, den er auf Erden gesehen hatte. Dass er seiner Mutter und seinem Vater nicht Lebewohl hatte sagen können, dass nur ich wusste, wo sein Körper ruhte. Es war eine kaputte Welt, das wurde mir klar, in der ein Junge wie ich einen Jungen wie William K beerdigen musste.
Ich ging mit den Jungen, aber ich sprach nicht und dachte oft darüber nach, den Marsch aufzugeben. Jedes Mal, wenn ich die Überreste eines Hauses sah oder einen hohlen Baum, war ich versucht, stehen zu bleiben, mich dort zu verkriechen und das alles aufzugeben.
Wir gingen die Nacht hindurch, und am späten Morgen waren wir ganz nah an der Grenze zu Äthiopien, und der Regen war ein Irrtum.
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