Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Achseln.
Ich blinzelte und sah, wie aus dem Jungen am Horizont viele Jungen wurden, dann Hunderte von Silhouetten. Ich setzte mich auf. Dut und Kur blieben stehen, Hände auf den Hüften.
– Mein Gott, wer sind die?
Dut weckte Tito und fragte, ob er wüsste, dass eine Gruppe von Jungen nach Gumuro kommen sollte.
– Von euch haben wir ja auch nichts gewusst, sagte Tito müde. Er war mürrisch, weil er geweckt worden war, aber die Masse von Leuten, die da auf das Dorf zukam, interessierte ihn.
Die Gruppe kam näher. Wir alle beobachteten, wie diese andere größere Kolonne von Jungen auf uns zukam. Sie nahm gar kein Ende. Es gingen jeweils vier Jungen nebeneinander, und bald waren auch Frauen zu sehen, ganz kleine Kinder, bewaffnete Männer. Tito war aufgebracht.
– Was zum Teufel ist das?
Es war ein Strom von Sudanesen, und sie kamen nach Gumuro. Sie sahen stärker aus, und sie gingen schnell, entschlossen. Sie trugen Beutel, Körbe, Koffer, Säcke. Und dann kam das Unglaublichste überhaupt: ein Tankwagen.
– Wasser, sagte Tito. – Das ist der Tankwagen der SPLA.
– Ein Tankwagen?, flüsterte Dut. – Wir haben einen Tankwagen?
Die Gruppe, die sich da vom nassen Horizont löste, war achthundert Mann stark, vielleicht auch tausend. Sie wurden von fünfzig oder mehr bewaffneten und gesunden Soldaten begleitet. Die Ersten von ihnen hatten nun den Ort erreicht. Dut war begeistert. Er sah ihre Lebensmittel und ihr Wasser, und er rief uns zusammen.
Der Erste der neuen Soldaten trat zu Dut und Tito.
– Hallo Onkel!, sagte Dut überglücklich, den Tränen nahe.
– Wer seid ihr?, fragte der neue Soldat. Er trug eine Baseballkappe und eine vollständige Uniform.
– Wir sind eine Gruppe Jungen, die nach Äthiopien wollen, sagte Dut. – Genau wie ihr. Wir sind heute hier angekommen. Ich bin so froh, euch zu sehen! Wir sind ausgehungert. Und wir haben kein sauberes Wasser. Sie trinken aus Pfützen, aus dem Sumpf. Als ich den Tankwagen gesehen habe, dachte ich, Gott selbst hat ihn uns geschickt. Wir brauchen dringend Wasser. Wir sind dem Tode nahe. Wir haben schon so viele verloren. Wie sollen wir …
– Wir werden die Soldaten verpflegen, sagte der neue Rebell, – aber ihr verschwindet besser.
– Aus dem Dorf? Dut konnte es nicht fassen. Seine Stimme zitterte.
– Wir müssen das Dorf haben. Wir kommen mit tausend Mann.
– Aber wir sind doch nur dreihundert. Es gibt bestimmt genug Platz. Und wir brauchen wirklich Hilfe. In der Wüste haben wir neunzehn Jungen verloren.
– Das mag ja sein, aber ihr müsst jetzt gehen, ehe der Rest von meiner Gruppe ankommt. Das sind wichtige Leute, und wir eskortieren sie nach Pinyudo.
Dut betrachtete die Neuankömmlinge. Da waren ganze Familien und gut gekleidete Erwachsene, aber es waren auch viele Jungen darunter, kleine Jungen, die uns ganz ähnlich waren. Mit dem einzigen Unterschied, dass die neue Gruppe besser genährt war. Ihre Augen waren nicht tief eingesunken, ihre Bäuche nicht aufgebläht. Sie trugen Hemden und Schuhe.
– Onkel, versuchte Dut es erneut. – Ich achte dich und verstehe deine Lage. Ich bitte nur darum, dass wir uns das Dorf für eine Nacht teilen. Es wird ja schon dunkel.
– Dann brecht lieber sofort auf.
Jetzt fing Dut an zu stottern, weil er begriff, dass der Soldat es ernst meinte.
– Wohin? Wo sollen wir denn hin?
– Ich mal dir bestimmt keine Landkarte. Hau ab. Schaff uns diese Moskitos aus dem Weg.
Er ließ einen angewiderten Blick über uns alle wandern, sah unsere vorstehenden Knochen und Augen und die rissige Haut, unsere weiß geränderten Münder.
– Aber Onkel, wir wollen doch dasselbe! Wollen wir denn nicht dasselbe? Hast du etwa andere Ziele als ich?
– Ich weiß nicht, was du für Ziele hast.
– Ich fasse es nicht. Das ist doch absurd.
Der Knall, der in diesem Augenblick folgte, erinnerte mich daran, wie mein Vater in seinem Laden geschlagen worden war. Ich wandte mich ab. Dut lag auf dem Boden, und seine Schläfe blutete von dem Schlag mit dem Gewehrkolben. Der Soldat stand über ihm.
– Stimmt, es ist absurd, Doktor. Gut gesagt. Und jetzt mach, dass du wegkommst. Der Soldat hob das Gewehr und schoss in die Luft. – Verschwindet, ihr Insekten! Bewegt euch!
Die neuen Soldaten jagten uns aus dem Dorf und schlugen dabei auf jeden ein, den sie erwischten. Jungen fielen hin und bluteten. Jungen rannten. Wir rannten, und ich rannte, und noch nie hatte ich eine solche Wut empfunden wie in diesem Moment.
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