Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Vielleicht lassen sie mich ja zum Ausgleich am Wochenende arbeiten.«
Er ruft an, aber das Gespräch verläuft nicht gut. Achor Achor hat wie die meisten von uns allerhand einander widersprechende Regeln des hiesigen Arbeitslebens gelernt. Es herrscht eine gewisse Strenge, die neu ist, aber sie scheint auch veränderlich und unausgewogen zu sein. Bei meinem Stoffmusterjob arbeitete meine Kollegin nach gänzlich anderen Regeln als ich. Sie kam jeden Tag zu spät und gab falsche Stundenzahlen an. Wenn ich da war, machte sie keinen Finger krumm und ließ mich – sie bezeichnete mich als ihren Assistenten, obwohl ich nichts dergleichen war – alle anfallenden Arbeiten erledigen. Kurz davor, ihre mangelnde Arbeitsmoral zu melden, blieb mir nichts anderes übrig, als doppelt so viel zu arbeiten wie sie, für zwei Drittel ihres Gehalts.
»Ich frage mich, ob die für so was die Sirenen anmachen«, sinniert Achor Achor.
»Ich glaube, ja.«
»Meinst du, die schnappen solche Leute?«
»Ganz bestimmt. Die beiden sahen aus wie Kriminelle. Ich bin sicher, die Polizei hat Fotos von ihnen.«
Die Vorstellung, wie Tonya und Puder gejagt und gefasst werden, erfüllt mich mit großer Genugtuung. In diesem Land, da bin ich mir sicher, werden solche Dinge nicht geduldet. Mir fällt ein, dass jetzt zum ersten Mal ein Officer meine Interessen vertreten wird. Der Gedanke erfüllt mich mit einer Schwindel erregenden Kraft.
Zehn Minuten vergehen, dann zwanzig. Wir haben eine Liste der wichtigsten Gegenstände gemacht, aber jetzt, wo wir mehr Zeit zur Verfügung haben, als wir gedacht hatten, beginnen Achor Achor und ich auch die kleineren Sachen aufzulisten, die gestohlen worden sind. Wir suchen alle Gebrauchsanweisungen für die fehlenden Geräte zusammen, für den Fall, dass die Polizei die Modellnummern braucht. Mit dieser Information können sie die gestohlenen Gegenstände vermutlich leichter wiederfinden, und auch die Versicherungsgesellschaft wird die Information haben wollen.
»Jetzt musst du alle Geburtstage neu in dein Handy einspeichern«, stellt Achor Achor fest.
Er ist einer meiner wenigen Freunde, die nicht gelacht haben, als ich erzählte, ich würde die Geburtstage aller Leute einspeichern, die ich kannte. Er fand das ganz logisch, weil man so im Lauf eines Jahres eine Reihe von Stationen hat, an denen man innehalten und sich daran erfreuen kann, wen man kennt und wie viele Menschen man als Freunde bezeichnen kann.
Jetzt räumt Achor Achor die Wohnung auf – der Tisch, die Lampe, die Sofakissen, die noch immer auf dem Boden liegen. Achor Achor ist ungemein pragmatisch und ungezwungen ordentlich. Er hat seine Hausaufgaben immer einen Tag vor Abgabe fertig, weil er so noch einen Tag hat, um sie ein letztes Mal zu kontrollieren. Er bringt sein Auto alle zweitausendfünfhundert Meilen zum Ölwechsel in die Werkstatt, und er fährt, als säße die ganze Zeit ein Fahrprüfer neben ihm. In der Küche benutzt er für jeden Handgriff das richtige Werkzeug. Anne und Gerald Newton, die beide sehr gern kochen, sich Kochshows im Fernsehen ansehen und Kochbücher lesen, haben uns ein ganzes Arsenal an Utensilien und Topflappen und sonstigem Küchenzubehör geschenkt. Achor Achor weiß, wofür jedes einzelne Teil gedacht ist, bewahrt sie alle schön ordentlich auf und lässt keine Gelegenheit aus, sie auch zu benutzen. Letzte Woche kam ich in die Küche, als er Zwiebeln schnitt und dabei eine Schutzbrille trug, auf deren Halteriemen ZWIEBELN SIND WAS FÜR HEULSUSEN stand.
Nach einer halben Stunde kommt Achor Achor der Gedanke, dass die Polizei vielleicht die Adresse falsch notiert hat. Er öffnet die Tür, um nachzusehen, ob ein Streifenwagen auf dem Parkplatz steht. Möglicherweise klopft ein Officer gerade bei einem Nachbarn. Ich erzähle ihm von dem Officer, der am Vortag vierzig Minuten da war, obwohl ich ihm anmerke, dass er diesen Umstand eigenartig findet, ja regelrecht befremdlich. Daraufhin ruft Achor Achor noch einmal bei der Polizei an. Die Antwort klingt mechanisch, sie sagen ihm, dass ein Streifenwagen unterwegs ist.
»Ich bin verflucht«, sage ich. Das ist der Gedanke, der uns beiden durch den Kopf spukt. »Es tut mir leid«, sage ich.
Er befreit mich nicht sofort von dieser Last.
»Nein, das glaube ich nicht«, lügt er. Es kann keine andere Erklärung für die Dinge geben, die mir widerfahren sind, seit ich in die Vereinigten Staaten gekommen bin. Nur sechsundvierzig Flüchtlinge sollten am 11. September nach
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