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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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Mein Zorn brannte heißer, als er je gegen die Murahilin gebrannt hatte. Er nährte sich aus der Erkenntnis, dass es innerhalb der Vertriebenen eine Rangordnung gab. Und dass wir auf der untersten Sprosse der Leiter standen. Wir waren absolut entbehrlich, und zwar für alle – für die Regierung, die Murahilin, die Rebellen, die besser gestellten Flüchtlinge.
    Wir verbrachten die Nacht in der Nähe von Gumuro, in einem Sumpf, wo wir in knöcheltiefem Wasser rasteten und versuchten zu schlafen. Wir waren allein und bildeten wieder einen Kreis, lauschten auf die Geräusche des Waldes und betrachteten die Lichter des Tankwagens in der Ferne.
    Es dauerte noch zwei Tage, bis wir Äthiopien erreichten. Vor Äthiopien mussten wir einen Zufluss des Nil überqueren, den Gilo, breit und tief. Die Menschen, die dort am Wasser lebten, hatten Boote, erlaubten uns aber nicht, sie zu benutzen. Schwimmen war unsere einzige Möglichkeit.
    – Wer geht als Erster?, fragte Dut.
    Am Flussufer sonnten sich drei Krokodile. Als die ersten Jungen in den Fluss stiegen, beschlossen die Krokodile, ebenfalls ins Wasser zu gleiten. Die Jungen sprangen schreiend ans Ufer.
    – Ganz ruhig, seht doch, sagte Dut. – Diese Krokodile werden nicht angreifen. Die haben heute keinen Hunger.
    Er watete in den Fluss und schwamm los, glitt geschmeidig dahin, ohne seine Brille nass zu machen. Dut konnte einfach alles. Manche Jungen schrien erneut, als sie ihn in der Mitte des Flusses sahen. Wir rechneten jeden Moment damit, dass er verschwand. Aber er schwamm unversehrt zu uns zurück.
    – Jetzt müssen wir rüber. Wer hier bleiben will, kann das tun. Aber wir überqueren heute diesen Fluss, und wenn wir das geschafft haben, sind wir schon so gut wie am Ziel.
    Wir kniffen die Augen zusammen, um zu sehen, was auf der anderen Seite war. Von uns aus betrachtet, sah es nahezu so aus wie das Ufer, an dem wir standen, aber wir wollten unbedingt glauben, dass dort drüben alles anders sein würde.
    Nur wenige von uns konnten schwimmen, daher zogen Kur und Dut und die Jungen, die schwimmen konnten, diejenigen hinüber, die es nicht konnten. Zwei Schwimmer brachten jeweils einen Jungen rüber, und das dauerte eine ganze Weile. Die Jungen waren tapfer und ruhig, während sie ans andere Ufer gebracht wurden, und ließen die Beine nicht zu tief ins Wasser hängen. An dem Tag wurde keiner von uns im Fluss angefallen. Aber später sollten sich dieselben Krokodile daran gewöhnen, Menschen zu fressen.
    Während ich darauf wartete, dass ich an die Reihe kam, packte mich plötzlich der Hunger wie seit Wochen nicht mehr. Vielleicht weil ich wusste, dass es in dem Dorf am Ufer richtiges Essen gab und dass es irgendeine Möglichkeit geben musste, etwas davon abzubekommen. Allein ging ich von Hütte zu Hütte und überlegte, wie ich etwas Essbares abstauben oder stehlen könnte. Ich hatte noch nie in meinem Leben gestohlen, aber die Versuchung übermannte mich allmählich.
    Eine Jungenstimme sagte hinter mir. – Du, Junge, woher kommst du?
    Er war in meinem Alter, ein Junge, der ganz ähnlich aussah wie wir Dinka. Er sprach eine Art Arabisch. Verblüfft stellte ich fest, dass ich den Jungen verstand. Ich erklärte, dass ich zu Fuß von Bahr al-Ghazal bis hierher gekommen war, aber das sagte ihm nichts. Bahr al-Ghazal existierte hier nicht.
    – Ich will dein Hemd haben, sagte der Junge. Dann kam ein anderer Junge, der aussah wie der ältere Bruder des ersten, und meinte, auch er wolle mein Hemd haben. Im Nu schlossen wir einen Handel ab: Ich sagte ihnen, ich würde mein Hemd gegen einen Becher Mais und einen Becher grüne Bohnen eintauschen.
    Der ältere Junge lief in ihre Hütte und kam mit dem Essen zurück. Ich gab ihnen mein einziges Hemd. Bald darauf war ich wieder bei den Jungen meiner Gruppe am Wasser. Andere hatten ebenfalls Essen bei den Dorfbewohnern eingetauscht und kochten und aßen. Nackt bis auf meine Shorts kochte ich meinen Mais und aß schnell. Während wir darauf warteten, über den Fluss gebracht zu werden, zogen jetzt die Jungen los, die noch nichts gegessen hatten, und tauschten ihre Habseligkeiten ein. Manche gaben ihre Ersatzkleidung her oder irgendwelche Dinge, die sie gefunden und mitgeschleppt hatten: eine Mango, Trockenfisch, ein Moskitonetz. Keiner von uns wusste, dass das Flüchtlingslager, in dem wir die nächsten drei Jahre verbringen würden, nur eine Stunde entfernt lag. Als wir dort ankamen, in Pinyudo, bereute ich die Entscheidung, mein

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