Weit Gegangen: Roman (German Edition)
um seine Braut nach Amerika zu holen. Das hieß zunächst einmal, dass er noch zwei Jahre warten musste, bis er amerikanischer Staatsbürger wurde, und danach würde der Papierkrieg beginnen. Während er wartete, würde er beten, dass seine Braut in Kakuma nicht den Verlockungen anderer sudanesischer Männer erlag oder beim Holzsammeln von Turkana vergewaltigt wurde, denn in beiden Fällen käme sie als Ehefrau nicht mehr infrage, und er müsste einen Verlust von einhundertvierzig Kühen hinnehmen. Es war immer schwierig, nach der Auflösung einer Ehe das Vieh zurückzubekommen.
Zu dem Zeitpunkt, als ich Tabitha wiederfand, Julian, dachte ich noch nicht an Heirat. Zuerst musste ich studieren, und um zu studieren, musste ich Geld sparen, während ich am Community College Englisch lernte. Meinen Berechnungen nach war ich ungefähr sechs Jahre davon entfernt, heiraten zu können, ob nun eine Sudanesin oder eine andere Frau. Daher war ich auch nicht am Boden zerstört, als Tabitha mir sagte, dass sie in Seattle mit einem anderen Mann zusammen war, einem ehemaligen SPLA-Soldaten namens Duluma Mam Ater.
Trotzdem blieben wir von da an im Kontakt. Wir telefonierten gleich am nächsten Tag, und von da häuften sich die Gespräche. Sie trat mit großem Selbstbewusstsein in mein Leben. Sie rief mich drei-, vier-, siebenmal am Tag an. Sie rief mich morgens an, um mir guten Morgen zu wünschen, und rief oft auch an, um gute Nacht zu sagen. In mancherlei Hinsicht schien es, als hätten wir eine Art Liebesbeziehung, doch andererseits sprachen wir auch oft über Duluma. In Kakuma war ich dem Mann nie begegnet. Ich hatte von ihm gehört, er war ein recht bekannter Basketballspieler, doch ansonsten wusste ich alles, was ich über ihn wusste, von Tabitha, die mich anrief, um über ihn zu klagen, mir ihre Sorgen mitzuteilen, ihre Alternativpläne vor mir auszubreiten. Er sei gewalttätig, sagte sie. Er wolle sie auf sudanesische Art behandeln, sagte sie. Er habe keinen Job und leihe sich ständig Geld von ihr. Ich hörte zu und gab Ratschläge und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich mir wünschte, sie würde ihn verlassen.
Aber ich wünschte mir nichts sehnlicher, weil ich mich rasch bis über beide Ohren in Tabitha verliebt hatte. Und wie hätte es auch anders sein können? Die vielen Stunden am Telefon, diese Stimme – wirklich, sie war unbeschreiblich. Melodiös und dunkel, intelligent und geistreich. Ich sprach in meinem Zimmer mit ihr, in der Küche, im Bad, auf der Veranda unseres Mietshauses. Es schien unmöglich, dass sie noch mit Duluma zusammen war, wo wir doch fast sechs Stunden am Tag miteinander telefonierten. Wann hatte sie dann noch Zeit für Duluma?
»Möchtest du, dass ich dich besuchen komme?«, fragte sie mich eines Tages.
Da wusste ich, dass sie mich auf die Probe stellte. Sie war bereit, Duluma für mich zu verlassen, und sie wollte zuerst herausfinden, ob sie mich auch in natura lieben konnte.
Zwei Wochen später war sie in Atlanta. Es war so eigenartig, sie zu sehen, die Frau zu sehen, die sie geworden war – und sie war eine Frau, in jeder Hinsicht. Ich öffnete die Tür, doch sie war nicht darauf gefasst, mich zu sehen, und für einen kurzen Moment schien es so, als würde sie mich nicht wiedererkennen, obwohl sie doch gekommen war, um mich zu besuchen. Drei Jahre waren vergangen, seit wir uns in Kakuma zuletzt gesehen hatten. Drei Jahre und viele Tausend Meilen lagen dazwischen. Nach diesem Augenblick der Unsicherheit schien sie zu begreifen, dass ich es wirklich war.
»Du hast zugenommen!«, sagte sie und fasste mich bei den Schultern. »Das gefällt mir!« Sie registrierte meine neuen Muskeln, den dickeren Hals. Viele, die mich von den Flüchtlingslagern her kennen, sind erstaunt, dass mein Körper nicht mehr an den eines Insekts erinnert.
Von dem Moment an, als sie die Hände auf meine Schultern legte, als wir einander direkt gegenüberstanden – so nah, dass es schwierig wurde, unumwunden in ihr wundervolles Gesicht zu blicken –, waren wir wie Mann und Frau. Die Tatsache, dass Tabitha bei mir übernachten würde, sorgte für große Aufregung unter den Sudanesen in Atlanta. Damals war es für Männer wie uns ungewöhnlich, Frauen, vor allem sudanesische Frauen, tage-und nächtelang in unserer Wohnung aufzunehmen. Das war, noch ehe Achor Achor Michelle kennenlernte, und er blieb fast das ganze Wochenende in seinem Zimmer, unsicher darüber, wie er mit der Situation umgehen
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