Weit Gegangen: Roman (German Edition)
sollte. Und auch für mich war es ein Wochenende der Verwandlung. Tabitha war viele Stunden in meiner Nähe, wach ebenso wie schlafend, und ich hatte das Gefühl, alles zu haben, was ich mir je gewünscht hatte, und dass ich von nun an endlich das Leben führen würde, das mir vorbestimmt war.
Als wir uns am zweiten Tag auf meiner Couch den Film Auf der Flucht ansahen – sie wollte ihn sehen, ich sah ihn zum dritten Mal –, eröffnete sie mir, dass sie Duluma verlassen hatte. Er sei zuerst sehr wütend gewesen, sagte sie.
Prompt rief er mich an diesem Wochenende an. Er war sehr aufgebracht. Er sagte, er müsse sich mir anvertrauen, von Mann zu Mann. Tabitha sei eine Hure, sagte er. Sie habe mit vielen Männern geschlafen und würde das auch weiterhin tun. Und während er all das sagte und ich ihm kein Wort glaubte, blickte ich Tabitha an, die auf meinem Bett lag und eine Ausgabe von Glamour durchblätterte, die sie gekauft hatte, als wir auswärts gefrühstückt hatten. Sie sei schwanger gewesen, sagte er. Schwanger mit seinem Kind, und sie habe es abgetrieben. Sie habe das Baby nicht gewollt und auch nicht auf ihn gehört. Sie habe das Baby getötet, trotz seiner Einwände, sagte er, und welche Frau tue denn so etwas? Sie ist ruiniert, sagte er, unfruchtbar. Die ganze Zeit betrachtete ich Tabitha, wie sie in ihrem Pyjama auf dem Bauch lag und langsam die Seiten umblätterte, die Füße in der Luft gekreuzt. Mit jedem unwahren und verlogenen Wort, das Duluma über sie sagte, liebte ich sie mehr. Ich legte auf und ging zurück zu Tabitha, zu unserem trägen und genüsslichen gemeinsamen Morgen, und ich erzählte ihr nicht, wer angerufen hatte.
Achor Achor sieht die Illustrierten auf dem Wartezimmertisch durch. Er findet etwas Interessantes und zeigt mir ein Nachrichtenmagazin mit einer Titelgeschichte über den Sudan. Eine Frau aus Darfur, rissige Lippen, gelbe Augen, blickt verzweifelt und trotzig zugleich in die Kamera. Weißt du, was sie will, Julian? Sie ist eine Frau, der man eine Kamera vors Gesicht hielt und die ins Objektiv starrte. Ich bin sicher, sie wollte ihre Geschichte erzählen oder zumindest eine Version davon. Doch jetzt, wo sie schon erzählt wurde, jetzt, da die zahllosen Morde und Vergewaltigungen entweder dokumentiert oder von den wenigen gemeldeten Gräueln abgeleitet worden sind, kann die Welt sich fragen, wie sie der sudanesischen Gewalt gegen Darfur begegnen will. Ein paar Tausend afrikanische Soldaten sind dort stationiert, aber Darfur ist so groß wie Frankreich, und die Darfurer hätten viel lieber westliche Soldaten, weil die angeblich besser ausgebildet, besser bewaffnet und weniger bestechlich sind.
Interessiert dich das, Julian? Du machst einen gut informierten Eindruck und scheinst ein einfühlsamer Mensch zu sein, auch wenn dein Mitgefühl gewisse Grenzen kennt. Du hörst meine Geschichte, dass ich zu Hause überfallen wurde, und du schüttelst mir die Hand und siehst mir in die Augen und versprichst mir eine gute medizinische Versorgung, doch dann warte ich. Ich warte darauf, dass irgendwelche Leute, vielleicht Ärzte hinter Vorhängen oder Türen, vielleicht Bürokraten in unsichtbaren Büros, entscheiden, wann und wie man sich um mich kümmern wird. Du trägst eine Uniform und arbeitest schon lange im Krankenhaus. Ich würde mich auch von dir behandeln lassen, selbst wenn du dir unsicher wärst. Aber du sitzt da und denkst, du könntest nichts tun.
Achor Achor und ich überfliegen den Artikel über Darfur und sehen, dass Öl beziehungsweise dessen Rolle bei dem Konflikt im Sudan nur beiläufig erwähnt wird. Zugegeben, Öl steht nicht im Zentrum der Geschehnisse in Darfur, aber, Julian, Lino kann dir erzählen, welche Rolle Öl bei seiner Vertreibung gespielt hat. Sind dir diese Dinge bekannt, Julian! Weißt du, dass es George Bush war, der Vater, der die großen Ölvorkommen in der sudanesischen Erde entdeckte? Ja, so wird es jedenfalls erzählt. Das war 1974, und damals war Bush senior der US-Botschafter bei den Vereinten Nationen. Mr Bush war natürlich ein Mann des Öls, und er sah sich ein paar Satellitenkarten des Sudan an, zu denen er Zugang hatte oder die seine alten Öl-Freunde hatten anfertigen lassen, und diese Karten ließen vermuten, dass es in der Gegend Öl gab. Das teilte er der sudanesischen Regierung mit, und damit begann die erste ernst zu nehmende Förderung, damit begann das Engagement der US-Ölindustrie im Sudan, und in gewisser Weise begann damit die
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