Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Telefon, der Wecker und meine Schuhe. In Achor Achors Zimmer waren sie weniger zurückhaltend. Sämtliche Schubladen stehen offen und sind geleert worden. Sein Aktenschrank, in dem er manisch Ordnung hält, ist umgekippt, und der Inhalt – jedes Stück Papier, das Achor Achor seit seinem elften Lebensjahr unterschrieben hat – bedeckt jetzt den Boden.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer und erstarre. Sie sind zurück. Tonya und Puder sind wieder in meiner Wohnung, und jetzt habe ich wirklich Angst. Sie wollen keinen Zeugen. Daran habe ich zuvor nicht gedacht, doch jetzt erscheint es mir logisch. Aber wie wollen sie mich erschießen, ohne die vierundfünfzig anderen Bewohner des Hauses zu alarmieren?
Es wird wohl auch eine andere Möglichkeit geben, mich zu töten.
Ich stehe im Türrahmen und beobachte sie. Sie kommen nicht auf mich zu. Falls sie das tun, bleibt mir noch ein Moment, um mich im Schlafzimmer einzuschließen. Dadurch könnte ich genug Zeit gewinnen, um durch das Fenster zu fliehen. Langsam mache ich einen Schritt zurück.
»Stehen bleiben, Afrika. Rühr dich ja nicht von der Stelle.«
Puder hat die Hand an der Waffe. Der Fernseher steht zwischen den beiden auf dem Boden.
»Wir könnten den Kofferraum umpacken«, sagte Tonya zu ihm.
»Wir packen den Kofferraum nicht um. Wir machen, dass wir wegkommen.«
»Du willst doch wohl nicht damit sagen, dass wir das Teil hierlassen.«
»Was willst du denn machen?«
»Lass mich nachdenken.«
Ich bin ein Idiot, wie gesagt. Weil ich ein Idiot bin und weil ich oft auf gute Menschen mit strengen Moralvorstellungen gehört habe, schöpfe ich Kraft daraus, mich für das Richtige einzusetzen. In Situationen wie dieser hier hat das nur selten etwas genutzt. Während sie streiten, kommt mir eine Idee, und ich beginne zu sprechen.
»Es ist Zeit, dass Sie beide gehen. Es ist vorbei. Ich habe die Polizei verständigt. Sie ist unterwegs.« Ich sage das mit ruhiger Stimme, doch noch während ich die letzten Worte ausspreche, kommt Puder auf mich zu und sagt hastig: »Einen Scheiß hast du, du Idiot«, und holt gegen mich aus. Ich denke, er will mich im Gesicht treffen, und hebe deshalb schützend die Hände an den Kopf, lasse meinen Oberkörper ungedeckt. Und zum ersten Mal in meinem Leben werde ich so geschlagen, dass ich fürchte, es könnte mich umbringen. Von einem Mann wie Puder mit voller Wucht einen Schlag in den Magen zu bekommen – das ist kaum auszuhalten, schon gar nicht von jemandem wie mir, der schwach gebaut ist mit einer Körpergröße von eins neunzig und einem Gewicht von knapp sechsundsechzig Kilo. Es ist als hätte er mir die Lunge aus der Brust gerissen. Ich würge. Ich spucke. Schließlich kippe ich zur Seite und falle, und während ich zur Erde stürze, schlägt mein Kopf gegen etwas Hartes und Unzerbrechliches, und das ist das vorläufige Ende des Valentino Achak Deng.
III.
Ich öffne die Augen, und die Szenerie hat sich verändert. Der größte Teil meines Eigentums ist fort, ja, aber der Fernseher ist noch immer da, steht jetzt auf dem Küchentisch. Jemand hat ihn eingeschaltet. Jemand hat ihn eingestöpselt, und ein Junge sitzt davor. Der Junge ist höchstens zehn, sitzt auf einem meiner Küchenstühle und lässt die Füße baumeln. Er hat ein Handy auf dem Schoß liegen und achtet gar nicht auf mich.
Gut möglich, dass ich halluziniere, träume, was weiß ich. Es kommt mir unmöglich vor, dass da ein kleiner Junge an meinem Küchentisch sitzt und seelenruhig fernsieht. Aber ich behalte ihn im Auge und warte darauf, dass er sich in Luft auflöst. Er löst sich nicht in Luft auf. Ein zehnjähriger Junge sitzt in meiner Küche vor meinem Fernseher, der vorher woanders gestanden hat. Irgendwer hat das Gerät aus dem Wohnzimmer in die Küche getragen und sich die Zeit genommen, das Antennenkabel wieder anzuschließen. In meinem Kopf pocht ein Schmerz, weitaus schlimmer als die häufigen Kopfschmerzen, die ich habe, seit ich vor fünf Jahren auf dem JFK gelandet bin.
Ich liege auf dem Teppich und überlege, ob ich versuchen soll, mich zu bewegen. Ich weiß nicht mal, wer dieser Junge ist; er könnte in demselben Schlamassel stecken wie ich. Ich suche nach meinen Armen und merke, dass sie hinter mir zusammengebunden sind, vermutlich mit der Telefonschnur.
Auch das erlebe ich zum ersten Mal. Noch nie bin ich auf diese Weise meiner Freiheit beraubt worden, wenngleich ich schon Männer mit gefesselten Händen gesehen habe und auch gesehen habe,
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