Weit Gegangen: Roman (German Edition)
wie diese Männer hingerichtet wurden. Ich war elf Jahre alt, als ich sah, wie sieben solcher Männer vor meinen Augen getötet wurden, in Äthiopien, vor meinen Augen und den Augen zehntausender Jungen wie mir. Um uns eine Lehre zu erteilen.
Mein Mund ist mit etwas verklebt. Es ist Paketklebeband, das weiß ich, weil Achor Achor und ich es für die Lebensmittel im Gefrierfach verwendet haben. Puder und Tonya müssen es mir über den Mund geklebt haben. Jetzt liegt die Rolle neben meiner Schulter. Meine Stimme und meine Bewegungsfreiheit werden durch Dinge eingeschränkt, die mir gehören.
Ich weiß nicht, was sie mit mir machen werden. Ich habe mit der Zeit gelernt, dass Schüsse meist infolge eines Kampfes fallen, und nicht, weil sie geplant sind. Weil ich den Kampf aufgegeben habe und weil ein zehnjähriger Junge an meinem Küchentisch sitzt, glaube ich, dass sie nicht vorhaben, mich zu töten. Aber ich bin, so viel ist klar, den Ereignissen ausgeliefert. Ich weiß nicht, wo meine Angreifer sind oder ob sie zurückkommen. Wer bist du,TV-Boy? Meiner Vermutung nach haben sie dich hiergelassen, damit du auf mich und den Fernseher aufpasst, und werden bald zurückkommen, um beides zu holen. Als Junge hat man mich mehr als einmal beauftragt, auf die AK-47 eines Soldaten der Sudan People’s Liberation Army aufzupassen. Lange Zeit während des Krieges hieß es, ein Rebellensoldat, der seine Waffe verlor, würde von der SPLA exekutiert, deshalb kam es oft vor, dass die Soldaten, wenn sie irgendwie beschäftigt waren, sich der Hilfe eines Jungen bedienten, und wir waren immer bereit. Einmal passte ich auf eine Waffe auf, während ein Soldat sich mit einer Anuak-Frau vergnügte. Es war das zweite Mal, dass meine Hände über eine solche Waffe glitten, und ich erinnere mich bis heute daran, wie heiß sie war.
Doch das Denken, das Hervorbringen von Erinnerungen, verursacht in meinem Hinterkopf solche Schmerzen, dass ich die Augen schließe und bald wieder das Bewusstsein verliere. Ich wache drei-oder viermal auf, und ich bin nicht sicher, wie spät es ist, wie lange ich schon gefesselt auf dem Boden liege. Es gibt keine Uhren mehr im Zimmer, und die Nacht ist so dunkel, wie sie es war, als ich das erste Mal ohnmächtig wurde. Jedes Mal, wenn ich aufwache, sitzt der Junge noch immer am Küchentisch und hat sich kaum bewegt. Sein Gesicht ist höchstens zwanzig Zentimeter von der Mattscheibe entfernt, und er blinzelt nicht.
Während ich hier liege, wird mein Verstand klarer, und ich beginne, mich zunehmend für den Jungen zu interessieren. Er hat sich nicht ein einziges Mal zu mir umgedreht. Ich kann den Bildschirm nicht sehen, aber ich höre das Gelächter, das aus dem Fernseher sprudelt, und das ist das Traurigste, was ich gehört habe, seit ich in diesem Land ankam. Falls ich recht habe und dieser Junge auf mich aufpasst, werde ich Atlanta ganz bestimmt verlassen. Möglicherweise sogar das Land. Vielleicht gehe ich nach Kanada. Ich kenne viele Sudanesen, die sich in Toronto, Vancouver, Montreal niedergelassen haben. Sie sagen, dass ich zu ihnen kommen soll, dass es dort weniger Verbrechen gibt, mehr Jobangebote. Sie haben dort zum Beispiel eine gesetzliche Krankenversicherung, und während ich hier liege, fällt mir ein, dass ich gar keine habe. Ich war ein Jahr lang versichert, bis vor Kurzem, als ich die Versicherung auslaufen ließ. Vor vier Monaten habe ich meinen Stoffmusterjob aufgegeben, um mich ganz auf mein Studium konzentrieren zu können, und da erschien mir die Krankenversicherung als unnötiger Kostenfaktor. Ich versuche, meine Verletzungen abzuschätzen, aber in diesem Moment ist mir das unmöglich. Aus der Tatsache, dass ich überhaupt denken kann, schließe ich, dass ich keine schwere Kopfverletzung davongetragen habe oder sogar schon tot bin.
Die Sudanesen, die nicht nach Kanada wollen, ziehen in die Great Plains, nach Nebraska und Kansas – Staaten, wo Vieh zu Fleisch wird. In der Fleischverarbeitung wird gut gezahlt, sagen sie, und das Leben in diesen Teilen des Landes ist relativ preiswert. In Omaha leben inzwischen Tausende von Sudanesen, Lost Boys und andere, und ein beträchtlicher Prozentsatz von ihnen wird dafür bezahlt, Tiere zu zerteilen und zu zerlegen, Vieh, das in vielen Teilen unseres Geburtslandes Sudan nur zu den allerhöchsten Festen als Opfer dargebracht wurde, bei Hochzeiten, Beerdigungen, Geburten. Die Sudanesen in Amerika sind zu Schlachtern geworden, es ist die häufigste
Weitere Kostenlose Bücher