Weit Gegangen: Roman (German Edition)
erfahren will, woran ich mich erinnere, dann spornt das mein Gedächtnis an. Wenn Sie je Tagebuch über Ihre Träume geführt haben, wissen Sie, wie leicht sie sich durch das bloße allmorgendliche Aufschreiben ins Bewusstsein zurückholen lassen. Ausgehend von dem Teil, an den Sie sich am besten erinnern, werden die Abenteuer und Wünsche und Schrecken der Nacht wieder lebendig, einfach alles, bis zurück zu dem Moment, als Sie den Kopf aufs Kissen legten.
Als ich in dieses Land kam, erzählte ich erst stumme Geschichten. Ich erzählte sie Menschen, die mir unrecht getan hatten. Wenn Leute sich vor mir in die Warteschlange mogelten, mich ignorierten, mich anrempelten oder herumstießen, dann starrte ich sie zornig an und zischelte ihnen lautlos eine Geschichte ins Ohr. Du weißt nichts, sagte ich dann. Du würdest nicht noch mehr zu meinem Leid beitragen, wenn du wüsstest, was ich erlebt habe. Und bis die jeweilige Person aus meinem Blickfeld verschwunden war, erzählte ich ihr von Deng, der starb, nachdem er noch fast rohes Elefantenfleisch gegessen hatte, oder von Ahok und Awach Ugieth, den Zwillingsschwestern, die von arabischen Reitern verschleppt wurden und die, falls sie noch leben, inzwischen die Kinder dieser Männer oder der Männer, an die sie verkauft wurden, zur Welt gebracht haben. Du hast keine Ahnung. Diese unschuldigen Zwillinge erinnern sich wahrscheinlich nicht mehr an mich oder unseren Ort oder von wem sie geboren wurden. Kannst du dir das vorstellen? Wenn ich nicht mehr mit der betreffenden Person sprechen konnte, erzählte ich meine Geschichten trotzdem weiter, sprach mit der Luft, dem Himmel, allen Menschen der Welt und jedem im Himmel, der zuhören mochte. Es ist nicht richtig ausgedrückt, dass ich diese Geschichten erzählte. Ich tue es immer noch, und nicht nur denjenigen, von denen ich mich ungerecht behandelt fühle. Die Geschichten entströmen mir ständig, wenn ich wach bin und atme, und ich will, dass jedermann sie hört. In kleinen Dörfern wie dem, aus dem ich stamme, sind geschriebene Worte etwas Seltenes, und es ist mein Recht und meine Verpflichtung, meine Geschichten in die Welt hinauszuschicken, selbst lautlos, selbst in völliger Ohnmacht.
Ich sehe den Kopf des Jungen nur im Profil, und er unterscheidet sich gar nicht so sehr von mir, als ich in seinem Alter war. Ich will nichts herunterspielen, was in seinem Leben geschieht oder geschehen ist. Gewiss hat er keine idyllische Zeit hinter sich. Im Augenblick ist er an einem bewaffneten Raubüberfall beteiligt und bleibt sehr lange auf, um das Opfer zu bewachen. Ich will nicht darüber spekulieren, was man ihm in der Schule und zu Hause beibringt oder eben nicht beibringt. Anders als viele meiner afrikanischen Freunde fühle ich mich nicht von dem Umstand gekränkt, dass viele junge Leute hier in den Vereinigten Staaten kaum etwas über das Leben heutiger Afrikaner wissen. Doch auf jeden jungen Menschen, der in diesen Dingen nicht bewandert ist, kommen viele, die eine ganze Menge wissen und die Respekt davor haben, was wir auf unserem Kontinent durchmachen. Und was wusste ich denn schon über die Welt, ehe ich in Kakuma die Highschool besuchte? Ich wusste nichts. Ich wusste nicht einmal von der Existenz Kenias, bis ich dort ankam.
Sieh dich an, TV-Boy, wie du es dir auf dem Küchenstuhl bequem machst, wie in einem Bett.
Er benutzt drei der Handtücher aus unserem Schrank als Decke, und seine kleinen rosa Zehen lugen darunter hervor. Ich versuche, sein Leben nicht mit meinem zu vergleichen, aber seine gekrümmte Haltung erinnert mich zu sehr an die Art, wie wir auf dem Weg nach Äthiopien schliefen. Wenn Sie von den Lost Boys des Sudan gehört haben, dann haben Sie gewiss auch von den Löwen gehört. Lange Zeit halfen die Geschichten von unseren Begegnungen mit Löwen, das Mitleid unserer Unterstützer und unseres Gastlandes im Allgemeinen zu wecken. Die Löwen steigerten die Wirkung der Zeitungsartikel und trugen zweifellos dazu bei, dass die USA sich überhaupt für uns interessierten. Doch trotz der wachsenden Zweifel der Zyniker ist das Seltsamste an diesen Schilderungen, dass sie in den meisten Fällen der Wahrheit entsprachen. Während meine Gruppe, die aus Hunderten von Jungen bestand, durch den Sudan zog, wurden fünf von uns Opfer von Löwen.
Das erste Mal passierte es, als wir zwei Wochen unterwegs waren. Die Geräusche des Waldes machten uns allmählich verrückt. Nachts konnten manche von uns nicht mehr
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