Weit Gegangen: Roman (German Edition)
und Anfang Januar wieder schloss. Ich füllte Regale mit Keramik-Weihnachtsmännern, ich sprühte Kunstschnee auf Miniweihnachtskränze, ich fegte siebenmal täglich den Boden. Und doch verdiente ich mit zwei Teilzeitjobs weniger als 200 Dollar netto die Woche. Ich kannte Männer in Kakuma, die mit dem Verkauf von Schuhen aus Gummireifen und Kordel im Verhältnis dazu mehr einnahmen.
Schließlich jedoch bewirkte ein Zeitungsartikel über die Sudanesen in Atlanta, dass zahlreiche wohlwollende Bürger uns neue Jobs anboten, und ich fing in einem Möbelgeschäft an, einem, in dem Innenarchitekten einkaufen, in einem Vorstadteinkaufszentrum mit vielen solchen Läden. Ich arbeitete im hinteren Bereich des Ladens, bei den Stoffmustern. Ich sollte mich deswegen nicht schämen, aber irgendwie tue ich es doch: Meine Arbeit bestand darin, Stoffmuster für die Einrichter zusammenzustellen und sie wieder einzusortieren, wenn sie zurückgeschickt wurden. Das habe ich fast zwei Jahre lang gemacht. Der Gedanke an all die vertane Zeit, all die Zeit, die ich auf einem Holzhocker saß, katalogisierte, lächelte, Leuten dankte, einsortierte – während ich doch eigentlich hätte zur Schule gehen sollen –, dieser Gedanke macht mir zu schaffen. Meine aktuellen Arbeitszeiten beim Century Club Gesundheits-und Fitnesscenter sind auf den ersten Blick annehmbar, die Klubmitglieder lächeln mich an und ich sie, aber meine Geduld ist allmählich erschöpft.
Puder und Tonya debattieren nun schon eine Weile. Sie werden immer nervöser, angesichts der Polizeipräsenz auf dem Parkplatz. Tonya macht Puder Vorwürfe, dass er den Wagen dort abgestellt hat. Sie wollte ihn auf der Straße parken, um ihre Flucht zu erleichtern. Puder behauptet dagegen, Tonya habe ihm ausdrücklich gesagt, er solle auf den Parkplatz fahren, damit sie möglichst schnell wieder wegkönnten. Dieser Streit dauert nun schon gut zwanzig Minuten, rasche, hitzige Wortwechsel, gefolgt von langem Schweigen. Sie verhalten sich wie Bruder und Schwester, und mir kommt der Verdacht, dass sie verwandt sind. Sie reden respektlos und ohne Grenzen zu wahren miteinander, und so benehmen sich Geschwister in Amerika.
Ich sollte jetzt eigentlich in Ponte Vedra Beach, Florida, sein, bei Phil Mays und seiner Familie. Phil war mein Betreuer, mein amerikanischer Mentor, der sich bereit erklärt hatte, mir den Einstieg in das Leben hier zu erleichtern. Er ist als Anwalt im Immobilienhandel tätig, er hat mir Kleidung gekauft, meine Wohnung gemietet, meinen Toyota Corolla finanziert, mir eine Stehlampe geschenkt, ein Küchenset und ein Handy, und er hat mich zum Arzt gefahren, als meine Kopfschmerzen einfach nicht aufhören wollten. Jetzt lebt Phil in Ponte Vedra Beach, und vor zwei Wochen hat er mich eingeladen, dort ein Wochenende zu verbringen und mir die University of Florida anzuschauen. Ich habe abgelehnt, weil ich kurz vor den Halbjahresprüfungen am Georgia Perimeter College stehe. Morgen muss ich zwei Klausuren schreiben.
Aber ich denke schon seit einer Weile darüber nach, Atlanta zu verlassen.
Ich muss nicht unbedingt nach Florida, aber hier kann ich nicht bleiben. Ich habe zwar noch weitere Freunde hier, weitere Verbündete – Mary Williams und eine Familie namens Newton –, aber es gibt nicht mehr genug, was mich in Georgia halten würde. Die Situation in der sudanesischen Gemeinde ist kompliziert. Es gibt so viel Missgunst. Jedes Mal, wenn jemand einem von uns helfen möchte, behaupten die übrigen Sudanesen, das sei ungerecht und sie müssten auch etwas bekommen. Sind wir nicht alle durch die Wüste gezogen?, fragen sie. Haben wir nicht alle die Häute von Hyänen und Ziegen gegessen, um unsere Mägen zu füllen? Haben wir nicht alle unseren eigenen Urin getrunken? Letzteres ist natürlich frei erfunden und trifft auf die überwiegende Mehrheit von uns nicht zu, aber es beeindruckt die Leute. Auf unserer langen Wanderung aus dem Südsudan nach Äthiopien gab es eine Handvoll Jungen, die ihren eigenen Urin tranken, ein paar weitere, die Schlamm aßen, um ihre Kehlen zu benetzen, aber unsere Erfahrungen waren sehr unterschiedlich, abhängig davon, wann wir den Sudan durchquerten. Die Gruppen, die später loszogen, hatten mehr Vorteile, mehr Unterstützung durch die SPLA. Eine Gruppe zum Beispiel, die gleich nach meiner durch die Wüste kam, konnte auf einem Wassertankwagen mitfahren. Sie hatten Soldaten, Waffen, Fahrzeuge! Und den Tankwagen, der für uns alles symbolisierte,
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