Weit Gegangen: Roman (German Edition)
zusammen. Meine Knochen gaben nach, und ich fiel zu Boden. Ich lag vor ihr, keuchend, mit bebenden Schultern, versuchte mit den Fäusten, das Wasser zurück in die Augen zu pressen. Ich wusste nicht mehr, wie ich auf eine solche Sanftheit reagieren sollte. Die Frau zog mich an ihre Brust. Ich war vier Monate lang nicht mehr berührt worden. Ich sehnte mich nach dem Schatten meiner Mutter, wollte die Geräusche in ihr hören. Mir war gar nicht klar gewesen, wie kalt mir schon viel zu lange gewesen war. Diese Frau schenkte mir ihren Schatten, und ich wollte in ihm leben, bis ich wieder nach Hause konnte.
– Du solltest hierbleiben, Achak, flüsterte Ajulo mir zu. – Du könntest mein Sohn sein.
Ich sagte nichts. Ich blieb bis zum Abend bei ihr und überlegte, ob ich tatsächlich ihr Sohn sein könnte. Den Trost, den ich bei ihr finden würde, konnte mir ein Leben mit halb nackten Jungen in einem Lager niemals bieten. Aber ich wusste, dass ich nicht bleiben konnte. Bei ihr zu bleiben hätte bedeutet, dass ich jede Hoffnung aufgab, je heimzukehren. Diese Frau als meine Mutter zu akzeptieren, hätte bedeutet, meine eigene Mutter zu verleugnen, die vielleicht noch lebte, die vielleicht bis ans Ende ihres Lebens auf mich wartete. Und dann, während ich auf dem Schoß dieser Anuak-Frau lag, fragte ich mich: Wie sah sie aus, meine Mutter? Ich hatte nur noch eine vage Erinnerung, leicht wie Leinen, und je länger ich bei dieser Frau namens Ajulo blieb, desto ferner und gesichtsloser würde das Bild meiner Mutter werden. Ich sagte Ajulo, dass ich nicht ihr Sohn sein könne, aber sie gab mir trotzdem zu essen. Ich kam einmal in der Woche, half ihr, so gut ich konnte, brachte ihr Wasser, einen Teil meiner Essensrationen, Dinge, an die sie sonst nicht herankam. Ich ging zu ihr, und sie gab mir zu essen und ließ mich auf ihrem Schoß ruhen. Während jener Stunden war ich ein Junge mit einem Zuhause.
Nach einem Monat hörte mein Magen auf zu klagen, und schwindelig war mir auch nicht mehr. Ich fühlte mich in vielerlei Hinsicht gut, ich fühlte mich wie ein Mensch, so wie ein Mensch sich nach Gottes Willen fühlen sollte. Ich war fast wieder stark, fast wieder heil. Aber gesunde Jungen mussten mit anpacken.
– Achak, komm mal mit, sagte Dut eines Tages. Dut hatte jetzt einen wichtigen Posten im Camp, und weil wir zusammen marschiert waren, achtete er darauf, dass ich und die Elf gut versorgt waren. Aber dafür erwartete er auch gewisse Gegenleistungen.
Ich folgte ihm und merkte bald, dass wir zum Krankenzelt gingen, das die Äthiopier errichtet hatten für Verwundete aus den Kämpfen im Sudan sowie für in Pinyudo Erkrankte, die zum Teil im Sterben lagen. Ich war noch nie in dem Zelt gewesen, erkannte es aber am Geruch, widerlich und durchdringend, wenn der Wind hindurchwehte.
– Da drin liegt ein Mann, der gestorben ist, sagte er. – Ich möchte, dass du mithilfst, ihn rauszutragen, und dann werden wir ihn begraben.
Ich konnte nicht widersprechen. Ich verdankte Dut mein Leben.
Das Licht im Zelt war blaugrün, und ich sah einen Körper, der in Musselin eingewickelt war. Drum herum standen sechs Jungen, alle älter als ich.
– Komm mit, sagte Dut und bugsierte mich zu den Füßen des Toten.
Ich packte den linken Fuß des Mannes, und die anderen sechs Jungen fassten jeder an einer anderen Stelle des kalten harten Körpers mit an. Dut hielt die Schultern des Mannes und hatte das Gesicht abgewandt, während wir den Pfad entlanggingen. Ich sah zu den Wolken hoch, sah auf das Gras und die Büsche – überallhin, nur nicht in das Gesicht des Toten.
Als wir an einem großen verdrehten Baum ankamen, sagte Dut, wir sollten ein Loch graben. Wir hatten keine Schaufeln, also rissen wir den Boden mit den Fingernägeln auf, warfen Steine und Erde beiseite. Die meisten von uns gruben wie Hunde, scharrten die Erde zwischen den Beinen hindurch. Ich fand einen Stein mit einem halbrunden Rand, wie eine Schüssel, und schaufelte damit die Erde zur Seite. In einer Stunde gruben wir ein fast zwei Meter langes und knapp ein Meter tiefes Loch. Dut wies uns an, das Loch mit Blättern auszulegen, und wir sammelten welche, bis das Loch grün war. Dann legten Dut und die größeren Jungen den Toten so in das Loch, dass er mit dem Gesicht nach Osten blickte. Wir wussten nicht genau, warum das so sein sollte, aber wir stellten keine Fragen, als Dut es befahl. Anschließend mussten wir Blätter über den Leichnam verteilen, und als wir damit
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