Weit Gegangen: Roman (German Edition)
natürlich. Ich schlief den ganzen folgenden Tag, verbarg mich vor den Stimmen der Ältesten, die mich zur Arbeit riefen, zum Essen, zum Spielen. Es war nicht vorbei. Nichts war sicher. Äthiopien war nichts für mich. Es war nicht sicherer als der Sudan und war nicht der Sudan und ich war nicht bei meiner Familie. Warum waren wir so weit gelaufen? In mir war nicht mehr genug Kraft, nicht mehr genug Leben für das alles.
Die Ältesten versicherten mir, ich würde so etwas nicht noch einmal erleben, es würde niemand mehr erstochen. Aber das stimmte nicht. Es wurden weitere SPLA-Angehörige getötet, und zur Vergeltung wurden Anuak getötet, und die Beziehungen zwischen den Anuak und uns, den Eindringlingen, verschlechterten sich rapide. SPLA-Soldaten wurden beschuldigt, sie hätten Anuak-Frauen vergewaltigt, und im Gegenzug wurden Sudanesen getötet und gelyncht. Die besser bewaffnete SPLA verschärfte den Konflikt, brannte Häuser nieder und tötete jeden, der Widerstand leistete. Als die Anuak sehr viel später zwei SPLA-Soldaten am Flussufer erschossen, kam es zu der Katastrophe, die als das Pinyudo-Agenga-Massaker bekannt ist. Das Anuak-Dorf Agenga wurde niedergebrannt, Frauen und Kinder und Tiere getötet. Danach zogen die Agenga-Anuak in sicherere Gebiete, doch viele ihrer Männer blieben in der Gegend und bildeten kleine Gruppen von Heckenschützen, sie hatten ein einfaches Ziel, das sie häufig erreichten: SPLA-Soldaten erschießen oder auch einfach nur Sudanesen. Als wir Sudanesen schließlich zwei Jahre später aus Äthiopien gejagt wurden, machten die Anuak mit großer Freude mit und schossen von hinten auf uns, als wir den Gilo überquerten, dessen Wasser sich mit unserem Blut färbte.
Aber eine Zeit lang ging es zwischen Sudanesen und Anuak relativ friedlich zu, und im Flüchtlingslager herrschte sogar ein Gefühl von Sicherheit. Als Pinyudo nach einigen Monaten von der internationalen Hilfsgemeinschaft anerkannt wurde, brachte das auch für die Anuak neue Möglichkeiten mit sich, an Nahrungsmittel zu gelangen, und der florierende Handel zwischen unserem Camp und den Dörfern am Fluss war für alle Beteiligten von Vorteil.
Man hatte uns zwar gesagt, dass wir die Dörfer am Fluss nicht allein besuchen sollten, aber Achor Achor und ich taten es trotzdem. Wir langweilten uns und er war verwegen genug. In den Dörfern ließ man uns nicht aus den Augen, weil alle argwöhnten, wir wollten irgendetwas stehlen. Trotzdem waren wir den ganzen Tag unterwegs, erkundeten das Leben am Wasser, spähten in die Hütten, rochen das Essen und hofften, etwas abzubekommen, ohne dass wir darum betteln mussten. Eines Tages passierte genau das, aber Achor Achor war nicht dabei. Er war zum Flugplatz gegangen, um sich eine Landung anzusehen, die für den Nachmittag erwartet wurde.
– Du da, komm her.
Eine Frau, die vor ihrer Hütte kochte, sprach mich auf Anuak an. Eine meiner Stiefmütter in Marial Bai war Halbanuak, daher konnte ich die Frau einigermaßen verstehen. Ich blieb stehen und ging dann auf sie zu.
– Geben sie euch im Camp zu essen?, fragte sie. Sie war schon älter, älter als meine Mutter, fast schon so alt wie eine Großmutter, ihr Rücken war gebeugt und ihr Mund eine schlaffe, zahnlose Höhle.
– Ja, sagte ich.
– Komm herein, Junge.
Ich ging in ihre Hütte, und sogleich stieg mir der Geruch von Kürbissen, Sesam und Bohnen in die Nase. Getrocknete Fische hingen an den Wänden. Die Frau kochte draußen weiter, und ich setzte mich an die Hüttenwand, lehnte den Rücken gegen einen Sack Mehl. Als sie hereinkam, schüttete sie eine Portion Mehl und Wasser in eine Schüssel. Dann nahm sie eine Schale mit Mais-Fufu und goss einen ganzen Becher Wein hinein. So eine Mischung hatte ich noch nie gesehen. Während ich aß, lächelte sie ein trauriges, zahnloses Lächeln. Ihr Name war Ajulo, und sie lebte allein.
– Wo wollt ihr alle eigentlich hin?, fragte sie.
– Ich glaube, wir wollen nirgendwohin, sagte ich.
Das verblüffte sie.
– Ihr wollt nirgendwohin? Aber wieso wollt ihr hierbleiben?
Ich sagte, dass ich das nicht wüsste.
– Ihr seid zu viele, sagte sie jetzt tief besorgt. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Niemand am Fluss hatte in den Sudanesen Dauergäste gesehen. – Bis ihr fortgeht, kannst du jederzeit herkommen. Komm allein, und du kannst jeden Tag bei mir essen, Achak.
Als sie das sagte, Julian, berührte sie meine Wange, wie eine Mutter das tun würde, und ich brach
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