Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Mahlzeiten, Decken, Schutz. Soweit wir wussten, waren wir Waisen, doch die meisten von uns klammerten sich an die Hoffnung, dass wir unsere Familien, zumindest einige davon, nach Ende des Krieges wiederfinden könnten. Es gab eigentlich keinen vernünftigen Grund, das zu glauben, aber wir schliefen jeden Abend mit dieser Hoffnung ein und wachten jeden Morgen mit ihr auf.
In den ersten Wochen und Monaten in Pinyudo gab es nur Jungen und Pflichten, Versuche, im Camp eine gewisse Ordnung herzustellen. Da die meisten aus meiner Gruppe zu den Jüngsten zählten, wurden wir Wasserträger. Meine Aufgabe war es, Wasser zum Trinken und Kochen aus dem Fluss zu holen, also marschierte ich jeden Tag mit einem Kanister zum Ufer, füllte ihn und trug ihn zum Camp zurück. Da das Wasser direkt am Rand angeblich ungeeignet war, sollten wir in die Flussmitte waten, um möglichst sauberes Wasser abzufüllen.
Aber ich konnte nicht schwimmen. Ich war höchstens einen Meter zwanzig groß, vielleicht auch kleiner, und der Fluss war fast überall tiefer und die Strömung war obendrein sehr stark. Ich musste andere bitten, größere Jungen und junge Männer, für mich das beste Wasser abzufüllen. Viermal täglich musste ich zum Fluss, und viermal täglich musste ich einen anderen Jungen bitten, in den Fluss zu waten und meinen Kanister zu füllen. Ich wollte unbedingt schwimmen lernen, aber dazu war keine Zeit, und außerdem hatte ich niemanden, der es mir beibringen konnte. Also holte ich das Wasser stets mit fremder Hilfe und schleppte zweimal morgens und zweimal nachmittags einen Sechsliterkanister zurück ins Camp. Für ein Insekt wie mich war das Gewicht enorm. Ich musste mich alle zehn Schritte ausruhen, kleine Schritte, die ich hastig zurücklegte.
Manchmal begegnete ich einheimischen Jungen – von den Anuak, einem Flussvolk –, die am Wasser spielten und Sandburgen bauten. Dann versteckte ich meinen Kanister im hohen Gras und hockte mich zu den Jungen, half ihnen, Gräben auszuheben und aus Schlamm und Sand und Stöckchen ganze Dörfer zu errichten. Hinterher hüpften wir ins Wasser, lachten, tollten herum. In solchen Augenblicken erinnerte ich mich daran, dass ich nur wenige Monate zuvor selbst ein Junge wie sie gewesen war.
Einmal frühmorgens, das Licht war noch golden, spielte ich mit den Anuak-Jungen und kehrte dann ins Camp zurück. Sogleich wurde ich von einem der Ältesten zur Rede gestellt.
– Achak, wo ist das Wasser?, wollte er wissen.
Ich wusste nicht, was er meinte. Ich war ein vergesslicher Junge, Julian, auch wenn ich mir einbilde, dass es etwas mit der Unterernährung zu tun hatte.
– Wir haben dich zum Fluss geschickt, um Wasser zu holen. Wo ist dein Kanister?
Ich drehte mich wortlos um und rannte zurück zum Fluss, sprang auf dem Weg dorthin über Baumstämme und tiefe Löcher. Ich war selten so schnell gelaufen. Als ich das Wasser erreichte, war das Flussufer menschenleer. Die Jungen waren fort. Ich rutschte mit meinem Kanister die Böschung hinunter, und als ich unten ankam, stieß ich mit dem Fuß gegen einen großen Stein. Sofort fuhr ich zurück. Der große Stein war mit einer Art dunklem Moos bedeckt. Im Schatten konnte ich nur schwer etwas erkennen, deshalb kauerte ich mich hin, um nachzusehen, ob darunter irgendwelche Tiere waren. Als ich mit der Nase näher herankam, überfiel mich der Geruch. Der Stein war ein Kopf. Er gehörte zum Körper eines Mannes, der schon eine Weile tot war und im Fluss trieb. Der Rest der Leiche lag im Ufergras versteckt. Die Augen des Mannes blickten auf den Grund des Flusses, die Arme lagen eng am Körper und die Schultern bewegten sich leicht in der Strömung. Um die Taille war ein Seil gebunden, und der Torso war aufgebläht, als würde er jeden Moment platzen.
Später wurde die Leiche als die eines jungen Sudanesen identifiziert, eines SPLA-Rekruten. Er hatte drei Stichwunden. Die sudanesischen Ältesten vermuteten, dass er von den Anuak getötet worden war. Wahrscheinlich war er beim Stehlen erwischt worden. Der Tote war als Warnung für uns gedacht: Wenn die Sudanesen stehlen, werden sie von dem Flussvolk getötet.
Von da an wollte ich nicht noch einmal zum Fluss. Ich dachte den ganzen Tag und vor allem nachts an den Mann. Auch wenn das Leben in Äthiopien keineswegs behaglich war, so waren wir dort doch einigermaßen sicher, und ich hatte mich in dem Glauben gewiegt, tödlicher Gewalt nicht mehr so nahe zu sein. Doch auch in Pinyudo konnte Böses geschehen,
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