Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
Vom Netzwerk:
fertig waren, häuften wir Erde auf den Toten, bis er nicht mehr zu sehen war.
    Das war der Anfang des Friedhofs von Pinyudo und das erste Begräbnis von vielen, an denen ich beteiligt war. Noch immer starben Jungen und Erwachsene, denn unsere Ernährung war zu eingeschränkt und die Gefahren zu zahlreich. An den meisten Tagen bekamen wir nur eine Mahlzeit, gelbe Maiskörner und ein paar weiße Bohnen. Wir tranken Wasser aus dem Fluss, und es war unsauber, voller Bakterien, daher starben die Menschen an Ruhr, Durchfall, verschiedenen namenlosen Krankheiten. Es gab kaum jemanden mit einer medizinischen Ausbildung in Pinyudo, und wer ins Krankenzelt kam, war dem Tod meist schon zu nah, um noch gerettet werden zu können. Wenn ein Junge nicht vom Bett hochkam, die Nahrung verweigerte oder seinen Namen nicht mehr erkannte, wickelten seine Freunde ihn in eine Decke und brachten ihn zum Krankenzelt. Es war allgemein bekannt, dass kein Patient das Zelt lebend wieder verließ, und daher wurde es als Zone Acht bezeichnet. Es gab sieben Zonen im Camp, wo die Jungen wohnten und arbeiteten, und Zone Acht wurde der letzte Ort, den man auf Erden aufsuchte. »Wo ist Akol Mawein?«, fragte man beispielsweise. »Der ist in Zone Acht«, lautete die Antwort. Zone Acht war das Danach. Zone Acht war das Ende aller Enden.
    Es wurde meine Aufgabe, die Toten aus Zone Acht zu begraben. Zusammen mit fünf anderen Jungen begruben wir fünf bis zehn pro Woche. Jeder von uns fasste beim Tragen eines Verstorbenen immer an der gleichen Stelle an; ich war immer der Träger des linken Fußes.
    – Du bist ein Begräbnisjunge, sagte Achor Achor eines Tages.
    Ich lächelte, weil ich dachte, es sei eine Aufgabe mit einem gewissen Prestige.
    – Das ist kein guter Job, glaube ich, sagte Achor Achor. – Ich denke, dass es irgendwie nicht gut für dich ist. Warum machst du das?
    Ich hatte gar keine andere Wahl. Dut hatte mich gebeten, und ich musste es tun. Er hatte mir Vergünstigungen versprochen, Sonderrationen zum Beispiel und sogar ein weiteres Hemd, was bedeutete, dass ich bald zwei haben würde – für Pinyudo ein sagenhafter Luxus.
    Doch bald gab Dut seine Rolle als Aufseher bei den Beerdigungen an einen grausamen und nervösen Mann ab, den wir Kommandant Gürtelschnalle nannten. Er trug jeden Tag eine so lächerlich große rotsilberne Gürtelschnalle über seinem Drillichanzug, dass wir jedes Mal, wenn wir ihn sahen, einfach losprusten mussten. Aber er war sehr stolz auf die Schnalle, weil sie so groß war und glänzte. Er hatte einen Jungen namens Luol damit beauftragt, sie jeden Abend zu polieren, und sofort danach zog er den Gürtel wieder an. Man munkelte, dass der Kommandant nachts nur auf dem Rücken schlief, weil er nicht die Hose mit dem Gürtel ausziehen wollte und die Schnalle drückte, wenn er auf der Seite oder auf dem Bauch lag. Wir hatten keine hohe Meinung von Kommandant Gürtelschnalle und seinen Kleidungsaccessoires.
    Kommandant Gürtelschnalle stellte eine Reihe von Regeln auf, wie Tote getragen und begraben werden sollten. Einige davon waren vernünftig, anderen jedoch mangelte es gänzlich an Sinn und Verstand. Beim Tragen mussten wir die Toten um ihrer Würde willen möglichst steif halten; einer musste immer geduckt unter dem Körper gehen, damit der Rücken nicht über die Erde schleifte. Wenn wir die Gräber schaufelten, mussten alle Ecken einen Winkel von exakt neunzig Grad haben. Wenn wir die Toten hineinlegten, mussten die Hände auf der Körpermitte platziert und der Kopf leicht nach rechts gedreht werden. Dann wurde eine Decke über sie gebreitet und die Gräber mit Erde gefüllt. Niemand hinterfragte diese Regeln. Es hätte auch nichts gebracht.
    Ich hatte mich an die Beerdigungen gewöhnt und half jeden Tag bei mindestens einer mit. An manchen Tagen waren es zwei, drei oder vier, meistens Jungen. Jungen zu begraben war Segen und Fluch zugleich – ein Segen, weil sie leichter waren als die erwachsenen Männer und Frauen, aber schwieriger, wenn wir von dem Jungen, den wir begruben, gehört hatten oder ihn gar persönlich kannten. Doch zum Glück kam das selten vor. Kommandant Gürtelschnalle war immerhin klug genug, die Gesichter der Toten zu bedecken. Wir fragten nicht nach ihren Namen, obwohl wir sie uns oft denken konnten. Wir wollten nicht wissen, wer wer war.
    Die Jungen konnten wir zu viert tragen, bei Erwachsenen waren wir zu sechst oder mehr. Es gab nur eine Art Begräbnis, bei der ich mich verweigerte, und

Weitere Kostenlose Bücher