Weit Gegangen: Roman (German Edition)
das waren die Babys. Kommandant Gürtelschnalle hatte ein Einsehen und verschonte mich. Babys waren selten, denn sie wurden meistens von ihren Eltern beerdigt. Die Begräbnisjungen mussten nur Babys zur letzten Ruhe betten, deren Mütter tot oder vermisst waren. Der Friedhof wuchs rasend schnell, wuchs in alle Richtungen, und die Beerdigungen wurden nachlässiger gehandhabt.
Eines Tages, als wir einen toten Jungen vom Krankenzelt zum Friedhof trugen, sahen wir eine Hyäne, die sich mit etwas im Boden abmühte. Es sah aus, als versuchte sie, ein Eichhörnchen aus der Erde zu zerren, und ich warf mit Steinen nach ihr, um sie zu verjagen. Sie wollte nicht verschwinden. Zwei Jungen liefen laut brüllend und mit Stöcken und Steinen bewaffnet auf sie zu. Schließlich drehte sie sich um und rannte davon, und da sah ich, woran die Hyäne genagt hatte: einem menschlichen Ellbogen. Da wussten wir, dass andere Begräbnisteams ihre Toten nicht gut begruben. Wir begruben diesen Mann erneut, und danach winkte Dut mich zu sich. Er wohnte in einer stabilen Hütte, in der vier Personen schlafen konnten.
– Setz dich, Achak.
Ich gehorchte.
– Es tut mir leid, dass du so eine Arbeit machen musst.
Ich erwiderte, ich hätte mich dran gewöhnt.
– Ja, aber es ist trotzdem nicht gut für dich. So hatte ich mir dieses Camp, die Zeit hier in Äthiopien nicht vorgestellt. Du sollst es hier besser haben. Ich will, dass du die Schule besuchst.
Dut blickte mit seinen kleinen, in Falten eingebetteten Augen hinaus ins Lager, und ich wollte ihn beruhigen. – Es geht schon, sagte ich. – Es ist ja nur vorübergehend.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg dann aber doch. Er dankte mir dafür, dass ich so schwere Arbeit auf mich nahm, und gab mir zwei Datteln, die er aus einem Sack auf seinem Bett holte. Als ich Duts Hütte verließ, machte ich mir Sorgen um ihn. Ich hatte ihn auch früher schon niedergeschlagen erlebt, aber diese Hoffnungslosigkeit war neu. Dut war ein gläubiger Mann, ein Optimist, und ihn so zu sehen verunsicherte mich. Ich rechnete im Grunde nicht damit, dass die oft versprochenen Schulen überhaupt entstehen würden, aber ich ging davon aus, dass unser Aufenthalt in Äthiopien vorübergehend war. Eines Tages, wenn die Kämpfe ein Ende hätten, so stellte ich mir vor, würde die ganze Gruppe, mit der ich gekommen war, zurück in den Sudan gehen, und in jedem Dorf würden wir diejenigen zurücklassen, die von dort stammten, bis von unserer Jungenkolonne nur noch die Weit Gegangenen übrig wären, die zuletzt nach Hause kommen würden. Ich würde am längsten unterwegs sein, aber auch ich würde irgendwann wieder zu Hause sein, und dann hätte ich einiges zu erzählen.
Tagsüber gingen mir viele seltsame Gedanken durch den Kopf. Traumbilder erschienen mir. Wenn ich zu schnell aufstand oder mich umdrehte, wurde mir so schwindelig, dass meine Gliedmaßen taub wurden und mir weiße Fliegen vor den Augen tanzten, und zusammen mit der Desorientierung kamen mir manchmal Menschen in den Sinn, die ich früher gekannt hatte. Ich sah beispielsweise meinen Vater oder das Baby meiner Stiefmutter oder mein Bett zu Hause. Oft sah ich auch den Kopf des Toten im Fluss, doch in meinen Visionen war sein Gesicht gehäutet wie das des Mannes ohne Gesicht.
Oft wachte ich morgens auf und dachte, ich läge in meinem eigenen Bett, und dann brauchte ich einen Moment, ehe ich merkte, dass ich nicht zu Hause war und vorerst auch nicht wieder nach Hause käme, wenn überhaupt je. Ich hatte mich an diese Visionen gewöhnt, an die Gesichter meiner Lieben. Zuerst hatten sie mir Angst gemacht, doch bald fand ich sie irgendwie tröstlich. Ich wusste, dass sie auftauchten und nach wenigen Augenblicken wieder verblassten. Ich war von Geistern umgeben und ich lernte, sie ebenso zu akzeptieren wie die Schattenwelt, in der ich in jener Zeit lebte.
Aber eines Tages wollte eine bestimmte Vision, diesmal war es Moses, einfach nicht wieder verschwinden. Ich wusch gerade mein Zweithemd im Fluss, als er neben mir auftauchte und lächelte, als trüge er ein tolles Geheimnis mit sich. Es war nicht das erste Mal, dass ich Moses sah. Ich hatte ihn mir oft an meiner Seite vorgestellt, wie er mich mit seiner Kraft und seiner Kampfbereitschaft beschützte. Aber an diesem Tag am Fluss bewegte sich das Bild von Moses leicht, er hatte die Augen weit geöffnet und den Kopf geneigt, als wolle er ein Eingeständnis von mir, dass er real war. Aber ich ließ mich
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