Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Stöcken oder Fingern in den Sand.
– Malt eure Buchstaben ordentlich!, blaffte er von der Tafel aus. – Ihr habt drei Minuten. Wenn ihr einen Fehler macht, wischt den Buchstaben weg und schreibt ihn neu. Wenn ihr drei Buchstaben habt, mit denen ihr zufrieden seid, hebt die Hand, und ich schaue mir eure Arbeit an.
Hände gingen hoch, und Mr Kondit machte seine Runde.
Ich hatte noch nie zuvor geschrieben. Als ich das erste Mal versuchte, den Buchstaben B in den Schmutz zu malen, trat Mr Kondit hinter mich und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Er beugte sich über mich, ergriff grob meinen Finger und zog ihn über den Boden, schrieb mit ihm ein ordentliches B. Dabei drückte er meinen Zeigefinger so fest auf die Erde, dass der Fingernagel abbrach und er zu bluten anfing.
– Ihr müsst euch mehr Mühe geben!, schrie er über unsere Köpfe hinweg. – Ihr habt jetzt nichts mehr außer eurer Bildung. Versteht ihr? Unser Land ist verwüstet, und wir können es nur zurückbekommen, indem wir lernen! Weil unsere Vorfahren unwissend waren, wurde uns die Unabhängigkeit gestohlen, jetzt endlich können wir das ändern. Viele von euch haben keine Mutter mehr. Ihr habt eure Väter verloren. Aber ihr bekommt Bildung. Hier werdet ihr ausgebildet, wenn ihr schlau genug seid, die Gelegenheit zu nutzen. Bildung wird eure Mutter werden. Bildung wird euer Vater werden. Eure älteren Brüder kämpfen in diesem Krieg mit Gewehren, aber wenn das Schießen aufhört, werdet ihr den nächsten Krieg mit euren Stiften ausfechten. Versteht ihr, was ich euch sage?
Er war jetzt heiser, und er wurde ruhiger. – Ich will, dass ihr etwas lernt, Jungs. Wenn wir je einen neuen Sudan haben wollen, müsst ihr etwas lernen. Wenn ich schon mal ungeduldig werde, dann nur, weil ich es kaum abwarten kann, dass dieser gottverfluchte Krieg zu Ende geht und ihr eure jeweilige Aufgabe in der Zukunft unseres zerstörten Landes übernehmen könnt.
Auf dem Weg zurück zu unseren Unterkünften war Mr Kondit das faszinierende Thema unserer Debatten.
– Habt ihr den Irren gehört?, fragten wir.
– Bildung ist unsere Mutter?, fragten wir.
Wir lachten und äfften ihn nach. Wir dachten, Mr Kondit hätte wie so viele Männer und Jungen, die die Wüste durchquert hatten, um nach Äthiopien zu gelangen, unterwegs den Verstand verloren.
Nicht lange nach der Eröffnung der Schulen geschah noch etwas Seltsames: Auf einmal erschienen Mädchen zum Unterricht. Es gab sehr wenige Mädchen in Pinyudo und, soweit ich wusste, überhaupt keine in der Schule. Doch eines Morgens, als wir einundfünfzig Jungen aus Mr Kondits Klasse uns auf dem Boden vor der Tafel niederließen, bemerkten wir vier Neue, ausnahmslos Mädchen, die in der ersten Reihe saßen. Mr Kondit hockte vor diesen Neuen, sprach mit ihnen und legte ihnen vertraulich seine Hände auf den Kopf. Ich war sprachlos.
– Schüler, sagte Mr Kondit und richtete sich zu voller Größe auf, – wir haben ab heute vier Neue unter uns. Sie heißen Agar, Akon, Agum und Yar Akech. Behandelt sie mit Höflichkeit und Respekt, denn sie sind sehr gute Schülerinnen. Außerdem sind sie meine Nichten, daher erwarte ich, dass ihr euch besonders anständig benehmt.
Und dann begann der Unterricht. Ich saß drei Reihen hinter den Mädchen und tat bis zur letzten Stunde nichts anderes, als ihnen auf den Hinterkopf zu starren. Ich studierte ihre Hälse und ihr Haar, als seien in den Windungen ihrer Zöpfe alle Geheimnisse der Welt und der Geschichte zu lesen. Ich blickte mich um, ob die anderen Jungen sich ähnlich verhielten, und stellte fest, dass ich weiß Gott nicht der Einzige war. An diesem Tag lernten wir nichts im Unterricht, und doch hatten wir Jungen allesamt das Gefühl, dass sich der Fokus unseres Lebens und allen irdischen Strebens verändert hatte. Diese vier anmutigen, gut gekleideten und so hinreißend unterkühlten Schwestern Agar, Akon, Akum und Yar Akech waren weit interessantere Studienobjekte als alles, was man auf eine Tafel oder in den Sand um das Klassenzimmer herum schreiben konnte.
Wir aßen oder schliefen nicht wie zuvor. Wir kochten und aßen zu Abend, aber wir genossen es nicht. Wir schliefen erst ein, als das Morgenlicht bereits von der anderen Seite der Erde herübersickerte. Während der langen dunklen Stunden hatten wir wach gelegen und über die Schwestern gesprochen. Zu Anfang wusste keiner, welche Schwester welche war, weil Mr Kondit sie zu rasch und flüchtig vorgestellt hatte. Erst
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