Weit Gegangen: Roman (German Edition)
verblüffend.
Fast das ganze Schuljahr musste vergehen, ehe meine Bemühungen um die Königlichen Mädchen endlich Früchte trugen. Eine Woche bevor die Klassen für einen Monat geschlossen werden sollten, baute sich Agum vor mir auf, als ich aus der Schule kam, und sagte etwas. Das war völlig unmöglich, und so reagierte ich auch: Ich sagte nichts, ich konnte es einfach nicht glauben, dass sie mit mir gesprochen hatte. Was hatte Agum gesagt? Ich musste die einzelnen Wörter erst aneinanderfügen. Dieser Wechsel von einem Leben in ein anderes kam einfach zu plötzlich. Ich war so verdattert gewesen, dass ich nichts verstanden hatte. Ich hatte ihre Augen wahrgenommen, ihre Wimpern, ihren Mund, der ganz dicht vor meinem war.
– Achak, meine Schwester will dich etwas fragen, hatte sie gesagt.
Agar, die Älteste und Größte, stand plötzlich neben ihr.
Ihre Schwester trat ihr auf den Fuß, wofür sie sich einen nicht unsanften Schlag einhandelte. Ich wusste nicht, was los war, aber es ließ sich gut an.
– Willst du zum Mittagessen zu uns nach Hause kommen?, fragte Agar.
In diesem Moment merkte ich, dass ich auf den Zehenspitzen stand. Ich stellte mich richtig hin und hoffte, dass sie es nicht mitbekommen hatten.
– Heute?, fragte ich.
– Ja, heute.
Ich überlegte einen Moment. Ich überlegte lange genug, um auf die falsche Antwort zu kommen.
– Das kann ich nicht annehmen, sagte ich.
Ich traute meinen Ohren nicht. Wie konnte ich so etwas sagen? Ich hatte die Königlichen Nichten von Pinyudo abgewiesen. Warum? Weil mir beigebracht worden war, dass ein Gentleman Einladungen ablehnt. Das hatte mein Vater mir an einem lauen Abend erklärt, als ich ihm half, seinen Laden zu schließen, aber hier lag eine ganz andere Situation vor, wie ich später erkennen sollte. Mein Vater hatte über Ehebruch gesprochen, über Mannesehre, über Respekt vor Frauen, über die Heiligkeit der Ehe. Er hatte nicht gemeint, dass man eine Einladung zum Mittagessen ablehnen musste. Doch in diesem Moment glaubte ich, wie ein Gentleman zu handeln, und ich lehnte ab.
Ein Schatten fiel auf die sonnigen Gesichter von Agum und Agar.
– Du kannst es nicht annehmen?, fragten sie.
– Tut mir leid. Das kann ich nicht, sagte ich und wich zurück.
Ich wich zurück, bis ich gegen einen der Pfosten stieß, auf denen das Schuldach ruhte. Er drohte umzukippen, doch ich wirbelte herum, richtete ihn wieder und rannte nach Hause. Eine Stunde lang war ich ganz zufrieden mit mir, mit der unfehlbaren Kontrolle über meine Gefühle. Ich war ein Muster an Selbstbeherrschung, ein echter Dinka-Gentleman! Und ich war sicher, dass die Königlichen Nichten das inzwischen erkannt hatten. Doch dann, nachdem ich eine Stunde lang in mich gegangen war, traf mich die Wirklichkeit wie ein Schlag. Ich hatte eine Einladung von ausgerechnet den Mädchen abgelehnt, denen ich ein Schuljahr lang hatte imponieren wollen. Mir war alles angeboten worden, was ich mir ersehnt hatte: Zeit mit ihnen allein zu verbringen, sie untereinander sprechen zu hören, zu erfahren, was sie von mir und von der Schule und von Pinyudo hielten und warum sie hier waren, und eine Mahlzeit, die von ihrer Tante zubereitet worden war – ein Essen, ein richtiges Essen, das eine Dinka-Frau gekocht hatte! Ich war ein Idiot.
Ich machte mich an die Schadensbegrenzung. Was konnte ich tun? Ich musste die Einladung, die jetzt zu Staub zerfallen war, irgendwie wieder zusammensetzen. Ich würde mich über mich selbst lustig machen. Konnte ich so tun, als hätte ich nur Spaß gemacht? Würden sie das auch nur ansatzweise glauben?
Das Ende des Schuljahrs stand bevor und damit auch die letzten Prüfungen. Danach folgte ein schulfreier Monat, und wenn ich die Situation nicht rettete, würde ich die Schwestern erst bei Schulbeginn im Frühjahr wiedersehen. Ich entdeckte Yar, die Jüngste von ihnen, die in einem Schulbuch las.
– Hallo, Yar, sagte ich.
Sie antwortete nicht. Sie starrte mich an, als hätte ich ihren Lunch geklaut.
– Weißt du, wo deine Schwestern sind?
Wortlos zeigte sie auf Agar, die auf uns zukam. Ich nahm Haltung an und setzte ein zerknirschtes Lächeln auf.
– Ich hätte nicht Nein sagen sollen, erklärte ich. – Ich würde gern zum Essen zu euch kommen.
– Warum hast du dann abgelehnt?, fragte Agar.
– Weil …
Während wir sprachen, während ich zögerte, kam Agum dazu. Und unter diesem Druck kam mir ein segensreicher und glücklicher Einfall. Eine Woche lang hatte ich
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