Weit Gegangen: Roman (German Edition)
durch angeregten Informationsaustausch erinnerten sich meine Elf wieder an alle vier Namen, und auf die gleiche Weise gelang es uns schließlich, eine Art Dossier über die vier anzulegen. Agar war die Älteste, so viel schien klar. Sie war sehr groß und trug Zöpfe. Ihr Kleid war grellpink mit weißen Blumen. Akon war die Zweitälteste, sie hatte ein rundliches Gesicht, extrem lange Wimpern und trug ein rot-blau gestreiftes Kleid mit dazu passenden Haarspangen. Agum hätte ebenso alt sein können wie Akon, denn sie war gleich groß, aber viel dünner. Sie schien sich am wenigsten dafür zu interessieren, was in der Schule passierte, und wirkte stets von allem und jedem gelangweilt oder frustriert, ja sogar genervt. Yar Akech war zweifellos die Jüngste, einige Jahre jünger als Agum und Akon und schätzungsweise ein Jahr jünger als ich und meine Elf. Trotzdem war auch sie größer als wir, und der Umstand, dass wir alle kleiner und deutlich unreifer waren als die Schwestern, machte die Mädchen in jeder Hinsicht noch faszinierender und unerreichbarer für uns.
Nachdem die Analyse jeder Kleinigkeit, die uns über die Schwestern bekannt war, die ganze Nacht gedauert hatte, blieb eine Frage immer noch offen: Würden die Mädchen am nächsten Tag tatsächlich wiederkommen? Und am Tag danach? Das wäre zu schön, um wahr zu sein, für mich, für Moses und die Elf, für die einundfünfzig. Sollten wir tatsächlich so vom Glück verwöhnt werden? Das würde die Schule und die Welt, wie wir sie kannten, völlig durcheinanderbringen.
Am nächsten Morgen gingen wir alle, die Elf und ich, wie umnebelt zur Schule. Keiner von uns hatte lange genug geschlafen, um vernünftig denken zu können. Wir sahen die Schwestern, als wir die Schule betraten. Die Mädchen saßen ganz hinten, auf Stühlen. Wir nahmen vor ihnen unsere Plätze ein.
– Okay, begann Mr Kondit. – Offensichtlich seid ihr alle in einem Alter, in dem die Konzentration nachlässt, wenn junge Frauen im Raum sind.
Wir sagten nichts. Woher wusste er das? Mr Kondit ist ein schlauer Kopf!, dachten wir.
– Ich habe die Sitzordnung ein wenig geändert, damit ihr euch besser konzentrieren könnt. Der heutige Unterricht wird daher sicherlich auf stärkeres Interesse bei euch stoßen. Also, heute befassen wir uns weiter mit den Konsonanten …
Wohl oder übel blieb uns nichts anderes übrig, als Mr Kondit anzuschauen und zuzuhören. Das aber war nicht unsere Absicht gewesen. Wir alle, jeder Einzelne von uns, waren mit anderen Plänen zur Schule gekommen. Wir hatten nämlich bereits bestimmte Aufgaben verteilt, wonach jeweils ein paar Jungen durch genaueste Beobachtung ein Maximum an Informationen über je ein Mädchen zusammenbringen sollten. Da wir uns nicht umdrehen durften, war das Beobachten der Schwestern nun unmöglich geworden. Von nun an war das Informationensammeln nur möglich, wenn wir alle draußen schrieben, vor Unterrichtsbeginn oder nach Schulschluss.
Durch unsere verdeckten Ermittlungen vor der Schule, nach der Schule und während unserer Schreibübungen im Sand wussten wir am Ende der ersten Woche mehr über die Kleidung der Schwestern, ihr Haar, ihre Augen, Arme und Beine, aber sie hatten nicht mit uns geredet. Sie sagten nichts im Unterricht, und sie unterhielten sich mit keinem Jungen. Allgemein bekannt war nur, dass sie alle vier schön waren und sehr klug und weit besser gekleidet, als elternlose Kinder wie ich das zu träumen wagten. Die Kleidung der Nichten war sauber, ohne Risse oder Löcher. Sie trugen leuchtendes Rot und Lila und Blau, und ihr Haar war stets äußerst akkurat gekämmt. Ich hatte mich nie für Mädchen als Spielkameradinnen interessiert, weil sie schnell weinten und meistens keine Lust auf Ringkämpfe hatten, aber viele Wochen lang lag ich abends, wenn die Gespräche der Elf zu einem Raunen verklungen waren und der Schlaf uns übermannt hatte, in unserer Unterkunft und ertappte mich bei der Frage, warum gerade ich so gesegnet war, diese wunderbaren königlichen Schwestern in meiner Klasse zu haben. Warum sollte mich das Glück so verwöhnen? Anscheinend hatte Gott einen Plan. Gott hatte mich von zu Hause und von meiner Familie getrennt und mich an diesen elenden Ort gebracht, nun jedoch schien das alles einen Grund zu haben. Es gab Leiden, so dachte ich, und dann gab es Licht. Es gab Leiden, und dann gab es Gnade. Ich war, wie mir jetzt klar wurde, nach Pinyudo geführt worden, um diesen herrlichen Mädchen zu begegnen,
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