Weit Gegangen: Roman (German Edition)
geschlagen, Frauen werden verlassen. Aber nicht so etwas.
Manche sagen, das liegt an den Frauen hier, an der Diskrepanz zwischen ihren neuen Vorstellungen und den alten Sitten der Männer, die sich nicht anpassen wollen. Tabitha hat vielleicht abgetrieben, vielleicht auch nicht – ich habe sie nicht gefragt, weil ich kein Recht dazu hatte – und dann hat sie Duluma aus eigenem Antrieb verlassen. Beides wäre in der traditionellen sudanesischen Gesellschaft undenkbar gewesen und selbst im gelockerten moralischen Kontext von Kakuma noch immer ziemlich ungewöhnlich. Im Südsudan ist sogar eine voreheliche sexuelle Beziehung ungewöhnlich und macht es der Frau häufig unmöglich, überhaupt je zu heiraten. Jungfrauen werden bevorzugt, für eine Jungfrau bekommt die Familie der Frau einen wesentlich höheren Brautpreis. Wenn man Amerikanern davon erzählt, bringt das faszinierende Reaktionen hervor. Sie können sich nicht einmal vorstellen, wie die Jungfräulichkeit überhaupt ohne gynäkologische Untersuchung festgestellt werden soll.
Die sudanesische Methode ist einfach. Am Vorabend der Hochzeit beziehen ein paar Angehörige der Braut, normalerweise ihre Tanten, das Hochzeitsbett mit makellos weißen Laken. In der ersten Nacht, in der der Bräutigam seine Braut besuchen darf, verstecken sich diese Frauen im Haus oder beziehen unmittelbar vor der Tür Posten. Wenn der Bräutigam seine Braut zum ersten Mal penetriert, heulen die Frauen auf, und sobald sie können, gehen sie hinein und sehen nach, ob man auf dem Laken Blut vom gerissenen Jungfernhäutchen sieht, was beweisen würde, dass ihre Nichte tatsächlich Jungfrau war. Mit diesem Beweis in Händen gehen sie dann zu den Familien von Braut und Bräutigam.
Aber hier hatte es vorehelichen Sex gegeben, und es ging um eine selbstbewusste junge Frau, die beschlossen hatte, ihre Beziehung zu einem zornigen jungen Sudanesen zu beenden. Er dachte, sie verließe ihn des Geldes wegen. Da mein Name in Kakuma recht bekannt war, nahm er an, ich sei hier in Atlanta ein reicher Mann. Und das verwirrte seinen Verstand. Er beschimpfte sie wütend am Telefon und beleidigte sie. Er drohte ihr und warnte sie sogar, er würde etwas Drastisches und Unwiderrufliches tun, falls sie sich für mich und gegen ihn entscheiden sollte.
Und in diesem Punkt verstehe ich Tabitha nicht. Sie nahm seine Drohungen nicht ernst, und das war Wahnsinn, wie mir scheint. Duluma war in der SPLA gewesen, er hatte mit einem Maschinengewehr geschossen, er war über Leichen und durchs Feuer gegangen. Würde so ein Mann eine Drohung nicht in die Tat umsetzen? Aber sie erzählte mir nichts von den Warnungen. Ich wusste zwar, dass er eine derartige Drohung wahr machen würde, aber ich war durch unser Telefonat beruhigt, als er mir versicherte, akzeptiert zu haben, dass sie kein Interesse mehr an ihm hatte.
Als Phil mich anrief, entschuldigte er sich ebenso wie Bobby dafür, was mir in seinem Land passiert war. Bobby war kein religiöser Mensch, doch Phil ist ein Mann des Glaubens, und wir sprachen lange darüber, wie es ist, wenn der eigene Glaube geprüft wird. Es war interessant, Phil über Umstände sprechen zu hören, die seinen Glauben in Zeiten großer Not oder sinnlosen Leidens ins Wanken gebracht hatten. Ich kann nicht sagen, ob das, was ich empfand, wirklich Glaubenszweifel waren. Ich neige dazu, mir selbst die Schuld zu geben: Was habe ich getan, dass ich solches Unglück über mich und die Menschen, die ich liebe, bringe? Vor einiger Zeit sollte eine Versammlung der Lost Boys im Südosten von Atlanta stattfinden. Auf dem Weg hierher geriet ein Wagen mit Teilnehmern aus Greensboro, North Carolina, von der Straße ab. Der Fahrer kam ums Leben, zwei weitere wurden verletzt. Ein anderer Lost Boy aus Greensboro war über den Unfall und etliche weitere Enttäuschungen in seinem Leben so verzweifelt, dass er sich am nächsten Tag erhängte. Lastet ein derart großer Fluch auf mir, dass er auf alle, die ich kenne, einen Schatten wirft, oder kenne ich einfach zu viele Menschen?
Ich will damit nicht sagen, dass die Todesfälle lediglich meiner Prüfung dienten, denn ich weiß, dass Gott diese Menschen und speziell Tabitha nicht heimrufen würde, nur um die Stärke meines Glaubens infrage zu stellen. Ich will nicht hinterfragen, warum Er sie zu sich nahm. Aber ihr Tod war für mich der Auslöser, um über meinen Glauben und mein Leben nachzudenken. Ich habe meinen bisherigen Lebensweg betrachtet, habe mich
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