Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Lager vorübergehend Chaos ausbrach. Das geschah nicht allzu häufig, aber bei so vielen verschiedenen Nationalitäten, so vielen Stämmen und so wenig zu essen und so vielen und unterschiedlichen Formen des Leids waren Konflikte unvermeidlich.
Wie war das Leben in Kakuma? War es überhaupt Leben? Da teilten sich die Meinungen. Einerseits lebten wir, was bedeutete, dass wir ein Leben lebten, dass wir aßen und Freundschaften pflegen konnten, lernen und lieben konnten. Aber wir waren nirgendwo. Kakuma war nirgendwo. Kakuma war, wie man uns anfangs erklärte, das kenianische Wort für nirgendwo. Ganz gleich, was das Wort bedeutete, der Ort war kein Ort. Er war eine Art Fegefeuer, mehr noch als Pinyudo es gewesen war, wo es zumindest einen Fluss gab, der ganzjährig Wasser führte, und das auch noch auf andere Weise dem Südsudan ähnelte, den wir verlassen hatten. Aber Kakuma war heißer, windiger und ausgedorrter. Es gab kaum Gras oder Bäume in diesem Land, es gab keinen Wald, der einen mit Materialien versorgte, es gab meilenweit nichts, so schien es, und so waren wir völlig auf die UN angewiesen.
In meiner ersten Zeit im Camp tauchte Moses wieder in meinem Leben auf und verschwand erneut. Als Kakuma noch im Entstehen war, lief ich jeden Tag den äußeren Rand des Lagers ab, um herauszufinden, wer es bis hierher geschafft hatte und wer nicht. Ich sah Auseinandersetzungen zwischen Sudanesen und Turkana, zwischen europäischen Helfern und Kenianern. Ich sah, wie Familien neu gebildet wurden, wie frische Bündnisse entstanden, und ich sah sogar Kommandant Gürtelschnalle, wie er hitzig auf eine Gruppe von Jungen einredete, die ein paar Jahre älter waren als ich. Ich hielt Abstand zu ihm und den anderen SPLA-Offizieren, weil ich ihre Absichten kannte. Während ich in den ersten Wochen die Lagergrenzen ablief, erfuhr ich, dass Achor Achor es doch geschafft hatte und dass drei der ursprünglichen Elf bei ihm waren.
Als ich auf Moses traf, war das nicht sonderlich dramatisch. Ich stieg eines Morgens in den ersten Monaten in Kakuma über eine Gruppe schlafender junger Männer hinweg, die sich eine lange Decke teilten, unter der ihre Köpfe und Füße hervorschauten, und da sah ich ihn einfach. Moses. Er war gemeinsam mit einem anderen Jungen unseres Alters damit beschäftigt, über einem Feuer, das in einer Dose brannte, etwas asida zu kochen. Er sah mich im selben Moment, in dem ich ihn sah.
– Moses!, rief ich.
– Psst!, zischte er und kam zu mir geeilt.
Er drehte mich von seinem Begleiter weg, und wir gingen weiter an der Lagergrenze entlang.
– Nenn mich hier nicht Moses, sagte er. Wie viele andere im Camp hatte er seinen Namen gewechselt. In seinem Fall, weil er sich vor SPLA-Kommandanten versteckte, die möglicherweise nach ihm suchten.
Er war ein völlig anderer Mensch als bei unserem Abschied. Er war ein gutes Stück gewachsen, war gebaut wie ein Ochse, und seine Stirn wirkte härter und strenger, wie eine Männerstirn. Aber in entscheidender Weise, in seinem breiten schiefen Grinsen und den strahlend lächelnden Augen, war er noch immer ganz der alte Moses. Er wollte mir sofort von seiner Zeit als Soldat erzählen, und das tat er mit einer aufgeregten Atemlosigkeit, wie man sie eher bei der Beschreibung eines ganz besonders reizenden Mädchens erwarten würde.
– Nein, nein, ich war kein Kämpfer. Ich habe nie gekämpft. Ich hab nur die Ausbildung gemacht, sagte er als Antwort auf meine erste Frage. Ich war ungemein erleichtert.
– Aber die Ausbildung! Achak, das war ganz anders als das Leben hier, als in Pinyudo. Es war richtig hart. Hier müssen wir uns Sorgen ums Essen machen und mit Insekten und dem Wind klarkommen, aber da haben sie versucht, mich zu töten! Ich bin sicher, die wollten mich töten. Dort sind Jungen getötet worden.
– Haben sie sie erschossen?
– Nein, nein. Ich glaube nicht.
– Nicht wie die Gefangenen in Pinyudo?
– Nein, so nicht. Keine Kugeln, sie haben sie einfach in den Tod getrieben. So viele Jungen. Sie haben sie geschlagen, in den Boden gestampft und zurück in den Himmel gejagt.
Wir kamen an einem kleinen Zelt vorbei, in dem ein weißer Fotograf Fotos von einer sudanesischen Mutter und ihrem ausgehungerten Kind machte.
– Hast du mit einem Gewehr geschossen?, fragte ich.
– Ja, hab ich. Das war ein guter Tag. Hast du schon mal mit einem Gewehr geschossen?
Ich verneinte.
– Es war ein guter Tag, als sie uns die Gewehre gaben, die Kalaschnikows. Wir
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