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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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gefragt, ob ich Fehler gemacht habe oder nicht, ob ich ein gutes Kind Gottes gewesen bin. Und obwohl ich versucht habe, auf dem rechten Weg zu bleiben und obwohl ich mich doppelt bemüht habe, zu beten und regelmäßig zur Messe zu gehen, ist mir doch auch klar geworden, dass es an der Zeit ist, mein Leben neu zu beginnen. Das habe ich früher schon getan – jedes Mal wenn ein Leben endete und ein neues anfing. Mein erstes Leben endete, als ich Marial Bai verließ, denn seitdem habe ich meine Heimat und meine Familie nicht wiedergesehen. Auch mein Leben in Äthiopien schlug einen bestimmten Kurs ein. Drei Jahre lang lebte ich dort und erkannte allmählich meinen Platz im großen Plan der SPLA und im zukünftigen Südsudan. Und schließlich begann ich noch einmal von vorn, als wir in Kakuma ankamen.
    Nach meinem Marsch nach Kenia, nachdem Maria mich auf der Straße gefunden hatte, wo ich darauf wartete, dass Gott mich zu sich nahm, dachte ich viele Monate darüber nach, warum ich überhaupt geboren worden war. Es kam mir wie ein schlimmer Fehler vor, eine Verheißung, die nicht erfüllt werden konnte. In Kakuma war ein Musiker, der einzige Musiker in jenen ersten Tagen, und er spielte Tag und Nacht immer nur ein einziges Lied auf seiner doppelsaitigen Rababa. Die Melodie des Liedes war heiter, doch der Text war es nicht. »Du warst es, Mutter, du warst es«, sang er, »du warst es, die mich gebar, und dir gebe ich die Schuld.« Dann gab er seiner Mutter und allen Müttern des Dinkalandes die Schuld daran, dass die Babys, die sie geboren hatten, jetzt ein elendes Leben im Nordwesten Kenias führen mussten.
    Im Westen herrscht die Vorstellung, dass Flüchtlingslager nur auf Zeit bestehen. Wenn Bilder von Erdbeben in Pakistan gezeigt werden und die Überlebenden in ihren riesigen Städten aus schieferfarbenen Zelten zu sehen sind, wie sie auf Essen oder Rettung vor dem bevorstehenden Winter warten, glauben die meisten, dass diese Flüchtlinge bald nach Hause zurückkehren und die Camps innerhalb von sechs Monaten oder vielleicht einem Jahr wieder abgebaut werden.
    Aber ich bin in Flüchtlingslagern aufgewachsen. Ich habe fast drei Jahre in Pinyudo gelebt, fast ein Jahr in Golkur und zehn in Kakuma. In Kakuma wuchs eine kleine Ansammlung von Zelten zu einem riesigen Flickenteppich von Behausungen und Hütten aus Pfosten und Sisal und Lehm heran, und dort lebten wir von 1992 bis 2001, wir arbeiteten dort und gingen zur Schule. Es ist nicht der schlimmste Ort auf dem afrikanischen Kontinent, aber er zählt zu den schlimmsten.
    Dennoch richteten sich die Flüchtlinge dort ein Leben ein, das dem anderer Menschen ähnelte, indem wir aßen und plauderten und lachten und heranwuchsen. Güter wurden getauscht, Männer heirateten Frauen, Babys wurden geboren, die Kranken wurden geheilt oder, ebenso häufig, in Zone acht gebracht, um von dort ins süße Jenseits überzugehen. Wir jungen Leute gingen zur Schule, versuchten, wach zu bleiben und uns auf die eine Mahlzeit am Tag zu konzentrieren, während wir dem Zauber von Miss Gladys oder Mädchen wie Tabitha erlagen. Wir versuchten, Ärger mit anderen Flüchtlingen – aus Somalia, Uganda, Ruanda – und der einheimischen Bevölkerung in Kenias Nordwesten zu vermeiden, während wir ständig die Ohren offen hielten, ob es Neues von daheim gab, von unseren Familien, und ob sich eine Gelegenheit bot, Kakuma vorübergehend oder endgültig zu verlassen.
    Das erste Jahr in Kakuma lebten wir in dem Glauben, wir könnten bald in unsere Dörfer zurückkehren. Regelmäßig hörten wir von Siegen der SPLA im Sudan, und die Optimisten unter uns redeten uns ein, dass die Kapitulation Khartoums unmittelbar bevorstand. Manche Jungen hörten zum ersten Mal etwas von ihren Familien – wer noch lebte, wer tot war, wer nach Uganda oder Ägypten oder noch weiter geflohen war. Die sudanesische Diaspora breitete sich über die ganze Welt aus, und in Kakuma wartete ich auf Nachrichten, irgendwelche Nachrichten über meine Eltern und Geschwister. Die Kämpfe hielten an, und unablässig trafen neue Flüchtlinge ein, Hunderte pro Woche, und wir fanden uns allmählich damit ab, dass Kakuma für die Ewigkeit gebaut war und wir immer innerhalb seiner Grenzen leben würden.
    Das war unser Zuhause, und eines Tages, im Jahr 1994 war Gop Chol Kolong, der Mann, den ich im Lager als meinen Vater ansah, ein nervöses Wrack. Noch nie hatte ich ihn so aufgeregt erlebt.
    – Wir müssen hier wirklich mal aufräumen,

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