Weit Gegangen: Roman (German Edition)
während Lastwagen und Fahrzeuge vom Roten Kreuz anrollten und noch mehr Leute absetzten, auf einem Land, das so staubig und trostlos war, dass kein Dinka je auf die Idee gekommen wäre, sich dort niederzulassen. Es war ausgedörrt und öde, und der Wind war unerbittlich. Aber in der Mitte dieser Wüste würde eine Stadt entstehen. Das war Lokichoggio, das bald zum Schauplatz der internationalen Hilfseinsätze in diesem Gebiet werden sollte. Eine Stunde weiter südlich würde Kakuma liegen, das von den Turkana, einem kenianischen Hirtenvolk, nur spärlich besiedelt war, doch innerhalb eines Jahres würden auch vierzigtausend Sudanesen dort leben, und es würde für ein Jahr, zwei Jahre, dann fünf und zehn Jahre unser Zuhause werden. Zehn Jahre an einem Ort, an dem kein Mensch, wirklich kein Mensch, wenn er nicht hoffnungslos verzweifelt war, freiwillig auch nur einen einzigen Tag verbringen würde.
Du warst da, Tabitha. Du warst damals bei mir, und ich glaube, du bist auch jetzt bei mir. So wie ich mir einst meine Mutter vorstellte, die in ihrem Kleid von der Farbe einer schwangeren Sonne auf mich zukam, so finde ich jetzt Trost in der Vorstellung, dass du in deinem rosa T-Shirt eine Rolltreppe herunterkommst und sich ein Lächeln auf deinem herzförmigen Gesicht ausbreitet, während um dich herum alles andere stillsteht.
Buch III
XXII.
Nach Tabithas Tod rief Phil mich oft an, Anne und Allison riefen an, nur um zu reden und zuzuhören, wie sie sagten, aber ich wusste, dass sie sich Sorgen um meine Gesundheit und meine geistige Verfassung machten. Ich vermute, sie wussten nicht, woran sie mit mir waren. Ihnen war klar geworden, dass die Sudanesen in Amerika auch zu Mord und Selbstmord fähig waren, und so fragten sie sich, was Valentino wohl machen würde. Ich muss gestehen, dass ich viele Wochen lang fast unfähig war, mich zu bewegen. Ich ging kaum zum Unterricht. Ich bat um Freistellung von der Arbeit und verbrachte die Zeit im Bett oder vor dem Fernseher. Ich fuhr ziellos herum. Ich versuchte, Bücher über Trauer zu lesen. Ich schaltete mein Handy aus.
Bobby vermutete, dass Tabithas Ermordung überhaupt erst durch den Wahnsinn dieses Landes möglich geworden war, und in den dunklen Wochen nach ihrem Tod ließ ich mich ab und an zu dem Gedanken verleiten, dass Amerika an dem Verbrechen eine Mitschuld trug. Im Sudan ist es unvorstellbar, dass ein junger Mann eine Frau tötet. In Marial Bai war so etwas noch nie vorgekommen. Ich glaube, niemand aus meinem Clan könnte sich erinnern, dass dort etwas Derartiges je passiert wäre. Die Erfordernisse des Lebens hier haben uns verändert. Manches geht verloren.
Bei den Männern macht sich eine neue Verzweiflung breit, mit einem Hang ins Theatralische. Vor nicht allzu langer Zeit hat ein Sudanese in Michigan, den Namen des Ortes weiß ich nicht, seine Frau getötet, sein unschuldiges Kind und dann sich selbst. Die Hintergründe sind mir nicht bekannt, aber einem Gerücht zufolge, das in der sudanesischen Gemeinde die Runde machte, wollte die Frau dieses Mannes ihre Familie in Athens, Georgia, besuchen. Er war dagegen. Ich weiß nicht, warum, aber in der traditionellen sudanesischen Gesellschaft braucht der Mann seine Meinung nicht zu begründen. Und die Frau muss immer damit rechnen, geschlagen zu werden, manchmal über Monate. Also stritten sie, sie bekam Schläge, und er dachte, er habe sich durchgesetzt. Doch am nächsten Tag war sie fort. Sie hatte schon Wochen zuvor für sich und ihre Tochter einen Flug nach Athens gebucht, noch ehe sie mit ihrem Mann darüber gesprochen hatte. Entweder sie hatte geglaubt, sie würde ihren Willen durchsetzen können, oder es war ihr einfach egal. Doch dem Mann in Michigan war es nicht egal. Während seine Frau und seine Tochter bei Tanten und Cousinen in Athens zu Besuch waren, schäumte er zu Hause vor Wut. Ein Gesichtsverlust kann für einen Mann verheerend sein. Als Frau und Tochter zurückkamen, empfing er sie an der Tür mit einem Messer in der Hand, das er an dem Wochenende gekauft hatte. Er tötete sie noch im Flur und eine Stunde später sich selbst.
Irgendwie glaube ich, Duluma hat diesen Mann nachgeahmt, ist durch ihn erst auf die Idee gekommen, er sei in der Lage, diejenige zu bestrafen, die ihn verlassen hat, ohne danach selbst bestraft zu werden. Auch das wäre im Sudan unmöglich. Ein Mann tötet sein Kind nicht, tötet auch sich selbst nicht. Im Südsudan misshandeln zu viele Männer ihre Frauen, Frauen werden
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