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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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blickte immer couragiert in die Zukunft, selbst mit der 8, die hinter seinem Ohr eingebrannt war. Nichts konnte Moses bezwingen.
    Maria lebte bei Pflegeeltern, bei einem Mann und einer Frau aus ihrem Heimatort, in einem Teil von Kakuma, wo die mehr oder weniger intakten Familien untergebracht waren. Maria hatte mit drei anderen jungen Frauen und einem alten Mann – dem Großvater einer der Frauen – zusammengelebt, bis der Mann starb und die Frauen entweder verheiratet wurden oder in den Sudan zurückkehrten. Maria blieb sich selbst überlassen. Eines Tages suchte ich einen ganzen Morgen nach ihr, und endlich sah ich ihre Gestalt in einer Ecke von Kakuma, wie sie Männerkleidung an eine Wäscheleine hängte.
    – Maria!
    Sie drehte sich um und lächelte.
    – Schläfer! Ich hab letzte Woche in der Schule nach dir Ausschau gehalten.
    Sie nannte mich Schläfer, und es störte mich nicht. In Kakuma hatte ich so viele Namen, und das war der poetischste von allen. Ich hätte Maria erlaubt, mir jeden erdenklichen Namen zu geben, denn sie hatte mich nachts auf der Straße gerettet.
    – In welcher Klasse bist du dieses Jahr?, fragte ich.
    – In der fünften, sagte sie.
    – Ooh! In der fünften! Ich verneigte mich tief vor ihr. – Ein ganz außergewöhnliches Mädchen!
    – So erzählt man sich.
    Wir lachten beide. Ich hatte nicht gewusst, dass sie eine so gute Schülerin war. Sie war jünger als ich, und schon in der fünften! Bestimmt war sie die Jüngste in ihrer Klasse. – Sind das alles deine Sachen?
    Ich zeigte auf eine Hose, die bis zum Boden hing. Wem auch immer sie gehörte, er musste über ein Meter neunzig groß sein.
    – Mein Vater hier im Lager. Er war der Fahrradmann bei mir zu Hause.
    – Er hat Fahrräder repariert?
    – Er hat sie repariert, sie verkauft. Er sagt, er war mit meinem Vater befreundet. Ich erinnere mich nicht an ihn. Jetzt wohne ich bei ihnen. Er nennt mich seine Tochter.
    Sie habe so viel Arbeit, sagte Maria. Mehr Arbeit, als sie je bewältigt oder überhaupt für möglich gehalten hatte. Mit Haushalt und Schule hatte sie so viel zu tun, dass sie nach Sonnenuntergang zu erschöpft war, um zu sprechen. Der Mann, bei dem sie lebte, hatte zwei Söhne, die bald zu ihnen ins Lager kommen sollten, und Maria wusste, dass sich ihr Arbeitspensum dann verdreifachen würde. Sie hängte die letzte Wäsche auf und sah mir in die Augen.
    – Was hältst du von dem Ort hier, Achak?
    Sie sah mich auf eine Art an, ganz anders, als die meisten sudanesischen Mädchen, die einem fast nie direkt in die Augen blickten und nicht so unverblümt redeten.
    – Kakuma?, sagte ich.
    – Ja, Kakuma. Hier gibt es nichts außer uns. Findest du das nicht seltsam? Dass es nur Menschen und Staub gibt? Für unsere Unterkünfte und als Brennholz haben wir schon alle Bäume gefällt und alles Gras geschnitten. Und jetzt?
    – Wie meinst du das?
    – Bleiben wir einfach hier? Bleiben wir für immer hier, bis wir sterben?
    Bis zu diesem Moment hatte ich nicht daran gedacht, in Kakuma zu sterben.
    – Wir bleiben hier, bis der Krieg zu Ende ist, und dann gehen wir nach Hause, sagte ich. Das war Gop Chols beharrliche und optimistische Leier, und ich hatte offenbar angefangen, daran zu glauben. Maria lachte laut.
    – Meinst du das etwa im Ernst, Schläfer?
    – Maria!
    Eine Frauenstimme rief aus der Unterkunft.
    – Mädchen, komm her! Maria blickte verdrossen und seufzte.
    – Ich werde in der Schule nach dir Ausschau halten, wenn wir wieder anfangen. Bis dann, Schläfer.
    Gop Chol war ein Lehrer mit lockeren Verbindungen zur SPLA, und er war ein Mann mit Visionen, der auf sorgfältige Planung Wert legte. Gemeinsam bauten wir uns mit den von der UN zur Verfügung gestellten Pfosten und Plastikplanen eine Unterkunft, die als eine der besten in unserem Teil des Camps galt. Das Dach, das aus Palmwedeln bestand, hielt tagsüber die Hitze und nachts die Kühle ab, die Wände waren aus Lehm und unsere Betten eine Ansammlung von Sisalsäcken. Doch in Kakuma war es meist auch nachts so warm, dass wir draußen schliefen. Wir schliefen unter freiem Himmel und ich machte dort meine Schulaufgaben, beim Licht des Mondes oder der Kerosinlampe, die wir uns teilten.
    Gop bestand genau wie Mr Kondit darauf, dass ich unentwegt lernte, weil er sonst die Zukunft des Sudan gefährdet sah. Auch er hatte die Vision, dass diejenigen von uns, die in Pinyudo und Kakuma zur Schule gegangen waren und von der Sachkenntnis und den Materialien der

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