Weit Gegangen: Roman (German Edition)
immerzu auf seiner Pfeife, direkt vor Daniels Gesicht.
– Und Daniel? Was hat er gemacht?
– Er war so traurig. Er wurde nicht wütend. Ich denke, er hat vielleicht seine Ohren verschlossen. Er schien nichts zu hören. Er lief einfach vor sich hin. Dann hat Genosse Francis ihn getreten.
– Ihn getreten?
– Der Hang war steil, Achak. Und als er ihn getreten hat, war es, als ob er fliegen würde. Er flog sechs Meter weit, glaube ich, weil er sowieso schon lief und Schwung hatte. Als er in der Luft war, Achak – Entschuldigung, ich meine Valentino –, als er in der Luft war, da drehte sich mir der Magen um. Mir war so schlecht. Alles sackte mir in die Knie. Ich wusste, dass es schlimm war, als Daniel den Hang hinunterflog, wo lauter Steine lagen. Es klang, als würde ein Ast brechen. Er blieb einfach so liegen. Er lag da, als sei er schon immer tot gewesen.
– War er tot.
– Er ist auf der Stelle gestorben. Ich habe seine Rippen gesehen. Ich wusste nicht, dass so etwas passieren kann. Wusstest du, dass einem die Rippen aus der Haut kommen können?
– Nein.
– Drei von seinen Rippen waren durch die Haut gekommen, Achak. Ich bin zu ihm hin, gleich nachdem es passiert war. Der Ausbilder tat nichts. Er dachte, der Junge würde aufstehen, und deshalb pfiff er noch immer auf seiner Pfeife, aber ich hatte das Geräusch gehört, und deshalb ging ich zu Daniel hin und sah, dass seine Augen offen waren, als würden sie durch mich durchsehen. Es waren tote Augen. Du weißt ja, wie die aussehen. Ich weiß, dass du das weißt.
– Ja.
– Und dann sah ich die Rippen. Sie sahen aus, wie die Knochen eines Tieres. Wenn du ein Tier schlachtest, kannst du die Knochen sehen, und die sind weiß und da ist Blut drum herum, richtig?
– Ja.
– Bei ihm war das auch so. Und die Rippen waren ganz spitz. Sie waren gebrochen, und die Teile, die durch die Haut kamen, waren ganz spitz, wie gebogene Messer. Ich war da, und dann brüllte der Ausbilder mich an, ich solle weiterlaufen. Ich drehte mich um, und auf einmal waren noch zwei Ausbilder da. Ich glaube, die wussten, dass etwas nicht stimmte. Sie schlugen mich, bis ich den Hang hinunterlief, und ich sah, wie sie Daniel umringten. Drei Tage später erzählten sie uns allen, Daniel sei an Gelbfieber gestorben. Aber wir wussten, dass das eine Lüge war. Von da an begannen Jungen zu fliehen. Und ich floh auch.
Moses und ich hatten das Lager einmal umrundet und waren jetzt wieder an der Stelle mit dem Feuer und seinem Gefährten und dem asida.
– Wir sehen uns, Achak, ja?
Ich sagte, natürlich würden wir uns sehen. Aber in Wahrheit sahen wir uns nicht sehr oft. Wir verbrachten ein paar Wochen damit, das Camp gemeinsam zu erkunden, über die Dinge zu reden, die wir erlebt und getan hatten, aber nachdem er seine Geschichte erzählt hatte, war Moses nicht mehr sonderlich daran interessiert, über die Vergangenheit zu reden. Er sah Kenia als große Chance an, und er schien ständig über Möglichkeiten nachzudenken, wie er sie nutzen konnte. In der ersten Zeit verlegte er sich darauf, mit verschiedenen Dingen zu handeln, Besteck und Becher und Knöpfe und Garn. Er fing mit ein paar Shilling an und verdreifachte den Betrag innerhalb eines Tages. Er kam schneller voran als ich, und das blieb auch so. Nicht lange nach unserem Wiedersehen sagte Moses eines Tages, er habe eine Neuigkeit. Er habe einen Onkel, erzählte er, der den Sudan vor langer Zeit verlassen hatte und jetzt in Kairo lebte. Der hatte Moses in Kakuma ausfindig gemacht und wollte jetzt dafür sorgen, dass er auf eine Privatschule in Nairobi kam. Moses war nicht der Einzige, dem sich eine solche Möglichkeit bot. Jedes Jahr wurden ein paar Dutzend Jungen auf Internate in Kenia geschickt. Manche hatten Stipendien gewonnen, andere hatten wohlhabende Verwandte aufgespürt oder waren von ihnen aufgespürt worden.
– Tut mir leid, sagte Moses.
– Schon gut, sagte ich. – Schreib mir mal.
Moses schrieb mir nie, weil Jungen anderen Jungen keine Briefe schreiben, aber eines Tages, kurz bevor für uns Übrige im Lager die Schule begann, war er weg. Ich sollte fast zehn Jahre lang nichts von ihm hören, bis wir herausfanden, dass wir beide in Nordamerika lebten – ich war in Atlanta und er an der University of British Columbia. Er rief mich alle paar Wochen an oder ich rief ihn an, und seine Stimme war immer tröstend und inspirierend. Er ließ sich nicht unterkriegen. Er ging in Nairobi und Kanada zur Schule und
Weitere Kostenlose Bücher