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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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Rote Armee. Du bist köstlich.
    Dann rutschte er zurück ins Führerhaus.
    Einen Moment später geriet der Laster ins Schlingern, meine Füße verloren den Halt, und eine Sekunde lang kniete ich auf dem gebrochenen Oberschenkel eines toten Soldaten, dessen offene Augen in die Sonne starrten. Als ich mich wieder hochgezogen hatte, warf ich einen kurzen Blick über die übrige Ladefläche. Die Körper lagen da, als seien sie wahllos hingeworfen worden. Nichts hielt sie an Ort und Stelle.
    – Es ist erbärmlich, nicht wahr, sagte der alte Mann. – Viele von uns haben noch gelebt, als wir den Sudan verließen. Ich habe die Geier vertrieben. Gestern ist ein Hund auf den Wagen gesprungen. Er war hungrig.
    Wieder tat der Lastwagen einen Satz, und mein Fuß rutschte in etwas Zähflüssiges.
    – Die Hunde haben inzwischen Geschmack an Menschen gefunden. Sie gehen direkt ans Gesicht. Wusstest du das? Zum Glück hat einer der Männer im Führerhaus den Hund gehört. Sie haben angehalten und ihn erschossen. Jetzt sind wir nur noch zu viert.
    Vier auf der Ladefläche lebten noch, obwohl sie schwer zu finden waren, und ich war mir nicht sicher, ob der alte Mann recht hatte. Ich blickte auf den Körper neben mir. Zuerst schien es, als seien die Arme des Mannes versteckt. Doch dann sah ich die weißen Schulterknochen, und mir wurde klar, dass der Mann beide Arme verloren hatte.
    Wieder schlingerte der Laster. Mein rechter Fuß landete auf dem Arm eines Jugendlichen, der eine blaue Tarnuniform und einen breitkrempigen Hut trug.
    – Er lebt noch, glaube ich, sagte der alte Mann. – Obwohl er den ganzen Tag noch nichts gesagt hat.
    Ich richtete mich wieder auf und hörte wildes Gelächter aus dem Führerhaus. Sie waren absichtlich Schlangenlinien gefahren. Der Kopf des fröhlichen Mannes tauchte wieder aus dem Beifahrerfenster auf.
    – Der Fahrer entschuldigt sich vielmals, Rote Armee, sagte er. – Da war eine Eidechse auf der Straße, und er hatte Angst, so ein Geschöpf Gottes zu töten.
    – Bitte, Onkel, sagte ich. Ich möchte hier weg. Ich möchte runter. Ihr braucht nur kurz ein bisschen langsamer zu fahren, dann spring ich ab. Ihr müsst gar nicht anhalten.
    – Keine Sorge, Rote Armee, sagte der Vielleicht-Rebell. Plötzlich waren sein Gesicht und sein Tonfall ernst, sogar mitfühlend. – Wir bringen die Verwundeten zum Krankenhaus in Lopiding und begraben die Toten hinter dem Berg, und dann haben wir auf dem ganzen Weg in den Sudan einen leeren Lastwagen. Wohin auch immer du möchtest.
    Der Wagen war durch ein Schlagloch gefahren, und der Mann war mit dem Kopf oben gegen den Fensterrahmen geknallt. Im Nu war er wieder im Führerhaus und schrie den Fahrer an. Einen Moment lang wurde der Laster langsamer, und ich dachte, ich hätte eine Chance.
    – Nutz die Mitfahrgelegenheit, Junge.
    Es war der alte Mann.
    – Wie willst du sonst in den Sudan kommen?, fragte er.
    Dann blickte er mich an, als sähe er mich zum ersten Mal.
    – Wieso willst du überhaupt dahin zurück, Junge?
    Ich dachte gar nicht daran, dem Mann die Wahrheit zu sagen, dass ich recyceln wollte, um eine zweite Lebensmittelkarte zu bekommen. Einem Mann, der ums Überleben kämpfte, musste das lächerlich erscheinen. Die Menschen im Südsudan hatten ihre Probleme, und im Vergleich dazu waren die Abläufe in Kakuma, wo jeder versorgt und sicher war, nicht der Rede wert.
    – Um meine Familie zu suchen, sagte ich.
    – Die ist tot, sagte er. – Der Sudan ist tot. Wir werden nie wieder dort leben. Das hier ist jetzt deine Heimat. Kenia. Sei froh darüber. Das ist deine Heimat und wird immer deine Heimat bleiben.
    Unter meinen Füßen war ein Seufzen zu hören. Der Jugendliche wirkte, die Hände in Gebetshaltung unter dem Ohr, als läge er bequem zu Hause auf einem Federkissen. Ich schaute zu ihm hinunter, entschlossen, mich auf ihn zu konzentrieren, denn er wirkte am friedlichsten. Meine Augen taxierten ihn rasch – ich konnte sie nicht bremsen und verfluchte sie wegen ihrer Schnelligkeit und Neugier – und ich sah, dass dem Jungen das linke Bein fehlte. Es war nur noch ein Stumpf und der Verband bestand aus einem Stück Leinen und Gummibändern, die sich netzartig bis zu seiner Taille hochzogen.
    Heute weiß ich, dass die Fahrt weniger als eine Stunde dauerte, aber ich kann unmöglich vermitteln, wie lang sie mir vorkam. Ich hielt mir den Mund zu, aber ich musste trotzdem ununterbrochen würgen. Ich fröstelte, und mein Hals war wie taub. Ich war davon

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