Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Schlafzimmer brauchten, bauten wir noch einen Raum an, und die Mädchen zogen in denjenigen, den er und ich uns bis dahin geteilt hatten. Gop und seine Frau konnten nicht zulassen, dass ich in einem Zimmer mit den Mädchen schlief, also wurde für mich ein weiterer separater Raum gebraucht, und während wir dabei waren, ihn zu bauen, hatten wir eine Idee: Es war ungewöhnlich, dass ein Junge wie ich ein eigenes Zimmer hatte, und Gop und ich kannten viele Jungen, die liebend gern zu uns ziehen würden, was uns ein besseres Einkommen und mehr Lebensmittel bescheren würde. Also luden wir Achor Achor und drei andere Jungen, alles Schüler von Gop, ein und ließen mein Zimmer so geräumig ausfallen, dass fünf Jungen darin Platz fanden. Am Ende war der Haushalt innerhalb einer Woche von zwei auf zehn Personen gewachsen.
Wir hatten jetzt vier zusammenhängende Unterkünfte, mit einer Küche und einem Gemeinschaftsraum in der Mitte, und das ergab einen sehr großen Haushalt mit vielen jungen Menschen, die darin ein und aus gingen. Nie stellte sich die Frage, ob wir Kinder uns untereinander verstehen würden; wir hatten keine andere Wahl als zu einer perfekten Maschinerie zusammenzuwachsen, in der alle Einzelteile harmonisch funktionierten, friedlich und klaglos.
Jeden Tag standen wir acht Kinder um sechs Uhr auf und gingen gemeinsam zur Wasserpumpe, um unsere Kanister mit Wasser für die Dusche zu füllen. Es gab morgens ab sechs Uhr Wasser. Um diese Zeit mussten alle in unserem Teil des Camps, also rund zwanzigtausend Menschen, ihr Wasser zum Waschen holen. Das Wasser zum Kochen und Putzen wurde später geholt. Die Warteschlange an der Pumpe war immer lang, bis die UN Jahre später weitere Wasserpumpen anlegten. Doch damals standen meist schon über hundert Leute in der Schlange vor der Pumpe, wenn das Wasser angestellt wurde. Wieder zu Hause duschten wir alle und zogen uns für die Schule an. In jenen Jahren wurde in Kakuma nicht gefrühstückt – erst ab 1998 war die Lebensmittelversorgung so gut, dass auch morgens gegessen werden konnte. Wenn wir also irgendetwas zu uns nahmen, ehe wir das Haus verließen, dann war das Wasser oder Tee. Das Essen reichte nur für eine Mahlzeit am Tag, und die wurde abends eingenommen, gemeinsam, nach Schule und Arbeit.
Wir gingen alle in dieselbe Schule. Sie war nur ein paar Gehminuten entfernt und hatte knapp tausend Schüler. Zuerst gab es immer eine Versammlung, auf der Bekanntmachungen verkündet wurden und wir alle unseren Tipp des Tages bekamen. Häufig ging es dabei um Hygiene und Ernährung, ein seltsames Thema angesichts der Lebensmittelknappheit, ebenso häufig um Regelverstöße und Strafen. Wenn Schüler etwas ausgefressen hatten, wurden sie auf der Stelle bestraft, mit ein paar Stockschlägen oder einem mündlichen Tadel vor der gesamten Schülerschaft. Dann folgte ein Gebet, oder es wurde ein Kirchenlied gesungen, denn alle Schüler der Schule waren Christen, zumindest soweit wir wussten. Falls Muslime dabei waren, so bewahrten sie Stillschweigen, was ihren Glauben anging, und beschwerten sich auch nicht über den regelmäßigen Unterricht in einem Fach namens Christliche Unterweisung.
In meiner Klasse waren achtundsechzig Schüler. Den ganzen Tag über blieben wir in einem Klassenraum, saßen auf dem Boden, während unsere Lehrer für die Fächer Englisch, Kisuaheli, Mathematik, Biologie, Hauswirtschaft, Erdkunde, Landwirtschaft sowie Werken, Kunst und Musik ein und aus gingen. Die Schule machte mir Spaß, und meine Lehrer mochten mich, aber viele von meinen Freunden kamen nicht mehr zum Unterricht. Sie hatten keine Geduld, fanden ihn sinnlos und gingen lieber auf die Märkte, um Geld zu verdienen. Dort tauschten sie ihre Rationen gegen Kleidung ein, die sie dann im Camp mit Gewinn wieder verkauften. Und natürlich verließen immer wieder Jungen Kakuma, um sich der SPLA anzuschließen, und schon bald erfuhren wir, wer erschossen worden war, wer verbrannt war, wer Beine oder Arme durch eine Granate verloren hatte.
An den Tagen, an denen Lebensmittel verteilt wurden, marschierten wir Kinder zum UN-Gelände und stellten uns in einer Reihe auf. Die Mitarbeiter der UN oder des Lutherischen Weltverbandes luden die Lebensmittel von den Lastwagen und überprüften die Ausweispapiere und Lebensmittelkarten jedes Empfängers. Auf dem Rückweg trugen wir die Säcke mit Getreide und Hirse dann eine Meile entweder auf dem Kopf oder auf den Schultern, und wir mussten uns oft
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