Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
Vom Netzwerk:
stand noch immer im Blickfeld des Mannes vom Lastwagen, und wieder richtete er die Augen auf mich. Es war so angenehm, eine Maske zu tragen, unsichtbar zu sein!
    – Letzte Chance, Rote Armee!, sagte er zu dem Jungen, von dem er glaubte, dass er nach ihm suchte.
    Der Mann schirmte die Augen gegen die Sonne ab, versuchte noch immer herauszufinden, warum ihm der Junge mit der Maske so bekannt vorkam. Und ich blieb einfach stehen, ermutigt, bis er sich schließlich zum Lastwagen umdrehte, einstieg und in einer Wolke davonfuhr. Der Kenianer und ich sahen den Laster im orangeroten Staub verschwinden.
    Ich wollte mein neues Gesicht nicht abnehmen. Ich wusste, dass der Kenianer es mir nicht schenken würde, und überlegte kurz, ob ich nicht auf der Stelle damit weglaufen sollte. Vielleicht könnte ich mit der Maske unbemerkt entkommen – entweder zurück nach Kakuma oder in den Sudan. Ich kostete die Vorstellung aus, den ganzen Welt dieses neue Gesicht zu zeigen, ein neues Gesicht ohne Spuren ohne Makel, ein Gesicht, das keine Geschichte erzählte.
    – Passt dir nicht, Junge, sagte der Kenianer. Seine Hand packte meine Schulter, mit so festem Griff, dass an Flucht nicht zu denken war.
    Ich nahm die Maske ab und gab sie ihm.
    – Wohin bringen sie die Leichen?, fragte ich.
    – Sie sollen sie zurück in den Sudan bringen, aber das machen sie nicht. Sie werfen sie in den Fluss und nehmen zahlende Passagiere mit in den Sudan.
    – Sie begraben sie nicht?
    – Nein. Wozu auch? Wenn sie begraben werden, fressen Würmer und Käfer sie auf. Wenn sie nicht begraben werden, fressen Hunde und Hyänen sie auf.
    Der Mann hieß Abraham. Er war eine Art Arzt, ein Prothesenmacher. Seine Werkstatt war hinter dem Krankenhaus unter einem ausladenden Baum. Er versprach mir ein Mittagessen, wenn ich eine Stunde warten würde. Ich wartete gern. Ich wusste nicht, was Ärzte zum Mittagessen bekamen, aber ich stellte mir vor, dass es etwas ganz Besonderes sein müsste.
    – Was machst du gerade? fragte ich.
    Er arbeitete an etwas, das wie ein Arm oder Schienbein aussah.
    – Wo lebst du?, fragte er.
    – Kakuma I.
    – Hast du letzte Woche eine Explosion gehört?
    Ich nickte. Es war ganz kurz gewesen, ein Knall, wie das Geräusch einer Mine, die zum Leben erwacht.
    – Ein Soldat, SPLA, ein ganz junger, hat seine Familie im Lager besucht. In Kakuma II. Er hatte ein paar Souvenirs mitgebracht, um sie seinen Geschwistern zu zeigen. Eines dieser Souvenirs war eine Granate, und jetzt mache ich einen neuen Arm für den kleinen Bruder des Soldaten. Er ist neun. Wie alt bist du?
    Ich wusste es nicht. Ich schätzte, dass ich dreizehn war.
    – Ich mache das hier seit 1987. Ich war schon hier, als Lopiding eröffnet wurde. Damals bestand es aus fünfzig Betten, einem großen Zelt. Sie dachten, es wäre vorübergehend. Jetzt gibt es hier vierhundert Betten, und jede Woche kommen neue hinzu.
    Abraham formte den Kunststoff, während er erkaltete.
    – Für wen ist die hier?, fragte ich und griff nach der Maske, die ich getragen hatte.
    – Für einen Jungen, mit Verbrennungen im Gesicht. So was kommt oft vor. Die Kinder wollen sich die Bomben ansehen. Letztes Jahr war ein Junge hier, der in ein Feuer geworfen worden war.
    Er hielt sein Werk ins Licht. Es war ein kleiner Arm, für einen Menschen, der kleiner war als ich. Er drehte und wendete ihn und schien zufrieden damit zu sein.
    – Magst du Hühnchen, Junge? Es ist Zeit, Mittag zu essen.
    Abraham nahm mich mit zur Schlange vor der Essensausgabe, die sich im Hof gebildet hatte. Zwanzig Ärzte und Krankenschwestern standen in ihren blauen und weißen Monturen da. Sie waren bunt gemischt: Kenianer, Weiße, Inder, eine Krankenschwester sah aus wie eine sehr hellhäutige Araberin. Abraham half mir mit meinem Teller und füllte ihn mit Hühnchen, Reis und Salat.
    – Setz dich da drüben hin, Kleiner, sagte er und deutete mit dem Kinn auf eine kleine Bank unter einem Baum. – Setz dich lieber nicht zu den Ärzten. Die stellen nur Fragen, und man weiß nie, wohin das führt. Ich weiß ja nicht, in welchen Schwierigkeiten du steckst.
    Er sah zu, wie ich mich über mein Hühnchen und den Reis hermachte. Seit Monaten hatte ich kein Fleisch mehr im Mund gehabt. Er biss einmal in seinen Hühnerschenkel und starrte mich an.
    – In welchen Schwierigkeiten steckst du denn?
    – In gar keinen, sagte ich.
    – Wie bist du aus Kakuma rausgekommen?
    Ich zögerte.
    – Erzähl’s mir. Ich bin ein Mann, der Arme macht.

Weitere Kostenlose Bücher