Weit Gegangen: Roman (German Edition)
trinkt fast jeden Tag und leiht sich Geld, das er nicht zurückzahlen kann. Niemand kann ihn besonders leiden, doch an diesem Tag macht er vor, wie langsam Jok auf dem Rad mit den Farbwirbeln ist. Während Jok im Kreis fährt, geht Gorial neben ihm her und demonstriert, dass er selbst, wenn er gemütlich schlendert, schneller ist als Jok auf dem Rad.
– Meine zwei Beine sind schneller als dein ganzes wunderbares Fahrrad, Jok.
– Mir doch egal. Vielleicht fahre ich später mal schneller. Aber jetzt noch nicht.
– Du machst noch die Reifen schmutzig, Jok. Pass auf!
Jok lächelt Gorial an, lächelt all seine Zuschauer gelassen an, weil er den schönsten Gegenstand in ganz Marial Bai besitzt und sie nicht.
Als Jok das Fahrrad wieder am Baum abgestellt hat und es zusammen mit mir und Moses und William K bewundert, wird das Gespräch ernst. Man ist sich uneins wegen des Plastiks. Das Fahrrad ist in Plastik gehüllt geliefert worden, Plastik, das wie mehrere durchsichtige Socken die Metallrohre des Rades bedeckt. Jok betrachtet das Rad, die Arme vor der Brust verschränkt.
– Ein Jammer, dass sie einem nicht erklären, ob die Abdeckung nötig ist, sagt er.
Wir sagen nichts zu dem Plastik, aus Angst, dass Jok uns dann wegschickt.
Joks Bruder John, der größte Mann in Marial Bai, kantig, mit eng stehenden Augen, kommt dazu. – Natürlich macht man das Plastik ab, Jok. Bei allen Sachen macht man das Plastik ab. Das ist nur für den Transport. Komm, ich helfe dir …
– Nein!
Jok hält seinen Bruder mit beiden Händen davon ab. – Lass mich erst noch mal drüber nachdenken.
In dem Moment stellt sich Kenyang Luol, der jüngere Bruder des Häuptlings, zu uns. Er reibt sich das Kinn und äußert schließlich seine Meinung.
– Wenn ihr das Plastik entfernt, fängt das Ding an zu rosten, sobald es zum ersten Mal nass wird. Die Farbe wird abgehen, und am Ende wird es von der Sonne ausgebleicht.
Das führt Jok zu der Entscheidung, vorläufig nichts zu tun. Er beschließt, dass er weitere Meinungen hören muss, ehe er sich für irgendetwas entscheidet. Im Verlauf des Tages befragen William und Moses und ich die Männer auf dem Markt und müssen feststellen, dass die Lager nach zahllosen Beratungen noch immer geteilt sind: Die eine Hälfte vertritt die Überzeugung, dass das Plastik nur für den Transport gedacht war und entfernt werden muss, während die andere Hälfte behauptet, das Plastik müsse zum Schutz vor allen möglichen denkbaren Schäden am Fahrrad bleiben.
Wir berichten Jok das Ergebnis unserer Umfrage, während er weiter das Fahrrad anstarrt.
– Wieso soll ich’s denn überhaupt abmachen?, überlegt Jok laut.
Es scheint der vorsichtigere Weg zu sein, und wenn man eines von Jok sagen kann, dann, dass er ein vorsichtiger und bedächtiger Mann ist. So ist er ja überhaupt erst in die finanzielle Lage gekommen, sich ein Fahrrad leisten zu können.
Am späten Nachmittag betteln William K und Moses und ich erfolgreich um das Recht, das Fahrrad gegen alle zu beschützen, die es stehlen, beschädigen, berühren oder auch nur zu lange anschauen könnten. Jok bittet uns eigentlich nicht darum, es zu bewachen, aber als wir ihm anbieten, uns danebenzusetzen und es vor Schaden oder ungebührlichem Interesse zu bewahren, erlaubt er es uns.
– Ich kann euch Jungs nicht dafür bezahlen, räumt er ein. – Ich könnte es aber auch einfach reinbringen, wo es in Sicherheit wäre.
Es geht uns nicht um Bezahlung. Wir wollen nur vor Joks Hütte sitzen und das Ding anschauen, während die Sonne untergeht. Und so sitzen wir neben dem Fahrrad, die Sonne im Rücken, um besser sehen zu können, wie es vor Joks Hütte auf dem Ständer steht. Wir bewachen das Fahrrad fast den ganzen Nachmittag, und obwohl Jok und seine Frau drinnen sind, rühren wir uns kaum vom Fleck. Anfangs patrouillieren wir abwechselnd, marschieren um den Hof, einen Stock über die Schulter gelegt, als sei er eine Waffe, doch schließlich beschließen wir, uns einfach nur vor das Fahrrad zu setzen und es anzuschauen.
Das tun wir dann auch und prägen uns jedes Detail des Gefährts ein. Es ist viel komplexer als all die anderen Räder im Dorf. Es hat mehr Gänge, mehr Drähte und Hebel. Wir diskutieren, ob die Sonderausstattung dazu dient, es schneller zu machen oder ob das zusätzliche Gewicht es eher verlangsamt.
TV-Boy, du denkst bestimmt, dass wir lächerlich primitive Menschen sind, dass ein Dorf, dessen Bewohner nicht wissen, ob man die
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