Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Jahren, wenn Moses und William K beschnitten und alt genug sein werden, werden sie mit den anderen Jungs in die Viehcamps gehen, wo sie lernen, wie das Vieh versorgt wird, angefangen bei den Ziegen bis hin zu den Rindern. Meine älteren Brüder, Arou, Garang und Adim, sind an diesem Traumtag schon im Viehcamp. Alle Jungen freuen sich darauf. Im Viehcamp passt keiner auf die Jungen auf, und solange sie das Vieh hüten, können sie schlafen, wann sie wollen, und tun und lassen, was sie wollen. Ich dagegen bin dazu auserkoren, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und irgendwann seine Läden in Marial Bai und Aweil zu übernehmen.
Moses formt aus Lehm eine Kuh, während William K und ich ihm dabei zusehen. Viele Jungen und einige junge Männer betreiben das Kühekneten als Hobby, doch mich interessiert das ebenso wenig wie William K. Mein Interesse daran ist passiv, aber William K versteht nicht, was das Ganze soll. Er begreift nicht, wieso es Spaß machen soll, Kühe zu kneten oder sie in dem Loch des Weidenbaums aufzubewahren, wo Moses schon Dutzende versteckt hat, seit er vor ein paar Jahren mit dem Modellieren anfing.
– Wozu machst du das?, fragt William K. – Die gehen doch leicht kaputt.
– Gar nicht. Jedenfalls nicht immer, sagt Moses leise, während er ganz darauf konzentriert ist, die langen, gebogenen Hörner der Kuh zu formen. – Die da hab ich schon seit Monaten. Er deutet mit dem Kinn auf eine kleine Gruppe Lehmkühe, die ein paar Schritte entfernt krumm und schief auf der Erde stehen.
– Aber die können kaputtgehen, sagt William K.
– Gar nicht, sagt Moses.
– Und ob. Pass auf.
Und mit diesen Worten tritt William K auf eine der Kühe und zermalmt sie.
– Siehst du?
Er hat es kaum ausgesprochen, da hat Moses sich schon auf ihn gestürzt, schlägt William K auf den Kopf und drischt mit seinen dicken Armen auf ihn ein. Zuerst kichert William K, doch seine Heiterkeit verschwindet, als Moses ihm einen kräftigen Schlag aufs Auge verpasst. William K jault vor Schmerz und Empörung auf, und sofort ändern sich Ton und Art dieser Rangelei. Mit einem Satz stürzt er sich auf Moses und schlägt ihm in rascher Folge dreimal auf die schützend vors Gesicht gehobenen Arme, ehe ich ihn wegziehe.
In meinem Traum wird unser Streit unterbrochen, weil wir auf einmal etwas so Helles sehen, dass wir die Augen zusammenkneifen müssen. Langsam stehen wir vom Boden auf und gehen Richtung Markt. Licht erstrahlt vom Stamm eines Baumes auf dem Marktplatz in der Nähe von Boks Restaurant, und wir schlafwandeln mit offenen Mündern darauf zu. Erst als wir die Lichtquelle erreicht haben, sehen wir, dass es keine zweite Sonne ist, sondern ein Fahrrad, vollkommen neu, blitzblank poliert, wunderschön.
Wo kommt das her? Wem gehört es? Es ist mit Abstand der auffälligste Gegenstand in ganz Marial Bai. Die Pedale sind silbern wie Sterne, der Lenker wunderbar geformt. Die Farbe des Rahmens ist anders als alle Farben, die je in unserem Ort gesehen wurden, eine Mischung aus Blau und Grün und Weiß, zusammengewirbelt wie im tiefsten Teil eines Flusses.
Jok sieht uns ehrfürchtig vor dem Fahrrad stehen und kommt, um sich in dessen Glanz zu sonnen.
– Schönes Rad, was?, sagt er.
Jok Nyibek Arou, Besitzer der einzigen Schneiderei im Ort, hat das Fahrrad gerade einem arabischen Händler abgekauft, der von der anderen Seite des Flusses herübergekommen war, mit einem Lastwagen voller ganz neuer und beeindruckender Gegenstände, das meiste davon anspruchsvolle Handwerksware: Uhren, Bettgestelle aus Stahl, ein Teekessel, dessen Deckel automatisch aufspringt, wenn das Wasser kocht.
– Hat mich ein hübsches Sümmchen gekostet, Jungs.
Das glauben wir ihm sofort.
– Wollt ihr sehen, wie ich damit fahre?, fragt er.
Wir nicken ernst.
Dann steigt Jok aufs Fahrrad, ganz behutsam, als würde er ein gläsernes Maultier besteigen, und fängt an, so vorsichtig in die Pedale zu treten, dass er sich kaum in der Senkrechten halten kann. Die anderen Männer auf dem Markt, die sich für Jok freuen und ihn beneiden und gern ein paar Späße auf seine Kosten machen wollen, kommentieren seine Schneckenfahrt mit einer Reihe von Beleidigungen und rhetorischen Fragen. Jok beantwortet jede einzelne sehr ruhig.
– Kannst du nicht schneller fahren, Jok?
– Das Rad ist neu, Joseph. Da bin ich vorsichtig.
– Du machst es bestimmt kaputt, Jok. Es ist zerbrechlich!
– Ich passe schon auf, Gorial.
Gorial, der nicht arbeitet,
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