Weit Gegangen: Roman (German Edition)
viele von uns ihm die Schuld am Tod von Angelo und Ariath gaben. Ohne auf unsere Klagen zu achten, versammelte er uns auf einer Lichtung und sagte, wir sollten schlafen. Doch lange Zeit konnte keiner von uns die Augen zumachen, obwohl wir seit Sonnenaufgang unterwegs gewesen waren. Deng und ich setzten uns auf, starrten ins Gras, passten auf, ob sich irgendwas bewegte, lauschten auf das Knacken oder das Brechen von Zweigen.
Keiner der Jungen wandte dem hohen Gras den Rücken zu. Wir saßen paarweise Rücken an Rücken, um uns gegenseitig vor den Raubtieren warnen zu können. Bald bildeten wir einen Kreis, und diejenigen, die mit Schlafen an der Reihe waren, legten sich strahlenförmig um die Mitte. Ich suchte mir einen Platz innerhalb des Kreises und machte es mir so bequem wie möglich. Derweil versuchten die Jungen vom Außenrand nach innen zu gelangen. Keiner wollte außen bleiben.
Ich wurde mitten in der Nacht wach und merkte, dass ich nicht mehr innen lag. Mir war kalt, und keiner lag neben mir. Als ich mich umschaute, musste ich feststellen, dass der Kreis sich bewegt hatte. Während ich schlief, hatten sich die Jungen von außen nach innen gearbeitet, sodass der gesamte Kreis sechs Meter nach links gewandert war und ich jetzt allein außerhalb davon lag. Also bewegte ich mich wieder nach Richtung Mitte und trat dabei versehentlich auf Dengs Hand. Deng schlug nach meinem Knöchel und warf mir einen strafenden Blick zu, schlief aber wieder ein. Ich legte mich zwischen die Jungen und machte die Augen zu, entschlossen, nie wieder außerhalb des schlafenden Kreises zu landen.
Während unserer Wanderung, TV-Boy, war das Schlafen jede Nacht ein Problem. Wann immer ich in den dunklen Stunden erwachte, sah ich geöffnete Augen, hörte geflüsterte Gebete. Ich versuchte, diese Geräusche und Gesichter zu vergessen, und ich schloss die Augen und dachte an zu Hause. Ich musste meine liebsten Erinnerungen hervorholen und mir daraus den schönsten Tag zusammensetzen. Das war eine Methode, die mir Dut beigebracht hatte, der wusste, dass wir Jungen besser laufen, weniger klagen und weniger Fürsorge brauchen würden, wenn wir vernünftig geschlafen hatten. Stellt euch euren schönsten Morgen vor! rief er uns zu. Er war immer laut, immer strotzend vor Energie. Jetzt euer schönstes Mittagessen! Euren schönsten Nachmittag! Euer schönstes Fußballspiel, euren schönsten Abend, das Mädchen, das ihr am meisten liebt! Er sagte das, während er an der Reihe von uns sitzenden Jungen entlangging, auf unsere Köpfe einredend. Jetzt setzt in Gedanken den schönsten Tag zusammen und prägt euch die Einzelheiten ein, bewahrt diesen Tag im Gedächtnis, und wenn euch die größte Angst packt, holt diesen Tag hervor und versetzt euch hinein. Erlebt diesen Tag, und ich verspreche euch, ihr seid eingeschlafen, ehe ihr euer Traumfrühstück aufgegessen habt. So wenig überzeugend das auch klingt, TV-Boy, ich sage dir, die Methode funktioniert. Sie verlangsamt deine Atmung, sie beruhigt deinen Geist. Ich erinnere mich noch an den Tag, den ich mir erschaffen hatte, den schönsten Tag, der aus so vielen zusammengesetzt war. Ich werde ihn dir so schildern, dass du mich verstehst. Es ist mein Tag, nicht deiner. Es ist der Tag, den ich mir eingeprägt habe und den ich noch immer intensiver durchlebe als irgendeinen Tag hier in Atlanta.
IV.
Ich bin sechs Jahre alt, und ich muss täglich einige Stunden in einer Vorschulklasse der Zwergschule von Marial Bai verbringen. Dort bin ich mit anderen Jungen meines Alters zusammen, und mit welchen, die ein paar Jahre älter und jünger sind, und wir lernen das englische und arabische Alphabet. Die Schule ist erträglich, noch nicht langweilig, aber ich wäre trotzdem lieber draußen, weshalb mein Traumtag auch damit beginnt, dass ich zur Schule komme und der Unterricht ausfällt. Ihr seid zu klug! sagt der Lehrer und schickt uns nach Hause, um zu spielen und mit dem Tag anzufangen, was wir wollen.
Ich gehe nach Hause zu meiner Mutter, die ich erst zwanzig Minuten zuvor verlassen habe. Ich spüre, dass sie mich vermisst. Meine Mutter ist die erste Frau meines Vaters, und sie lebt auf dem Hof der Familie zusammen mit seinen anderen fünf Frauen, mit denen sie freundlichen, ja schwesterlichen Umgang pflegt. Sie sind alle meine Mütter, TV-Boy, so seltsam das auch klingen mag. Im Südsudan wissen ganz kleine Kinder oft gar nicht, wer ihre leibliche Mutter ist, weil die Ehefrauen und Kinder so eng
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