Weit Gegangen: Roman (German Edition)
zusammenhalten. In meiner Familie spielen alle Kinder der sechs Frauen zusammen und gehören ohne Einschränkung oder Vorbehalt dazu. Meine Mutter ist eine der Hebammen im Dorf und hat mit nur einer Ausnahme alle meine Geschwister auf die Welt geholt. Meine Brüder und Schwestern sind zwischen sechs Monaten und sechzehn Jahren alt, und unser Hof ist erfüllt von Babylauten, ihren Schreien und ihrem Lachen. Wenn man mich bittet, helfe ich, die Kleinen zu versorgen, trage sie herum, wenn sie weinen, trockne ihre nassen Sachen am Feuer.
Ich laufe von der Schule nach Hause und setze mich neben meine Mutter, die gerade einen Korb repariert, den eine unserer Ziegen angefressen hat. Ich nehme mir einen langen Augenblick Zeit, um ihre Schönheit zu bewundern. Sie ist größer als die meisten Frauen, gut über ein Meter achtzig, und obwohl sie so dünn ist wie alle anderen Frauen im Dorf, ist sie so stark wie ein Mann. Sie kleidet sich gewagt, immer in den prächtigsten Gelb-und Rot-und Grüntönen, aber am liebsten trägt sie Gelb, ein bestimmtes gelbes Kleid, das satte Gelb einer untergehenden Sonne. Ich kann sie über jedes Land hinweg und durch jedes Gestrüpp hindurch sehen, ich kann sie in der allergrößten Ferne sehen, die meine Augen überwinden: Ich muss nur nach der sich wiegenden Säule aus Gelb Ausschau halten, die übers Feld auf mich zuschreitet, um zu wissen, dass meine Mutter kommt. Ich habe oft gedacht, dass ich mir nichts Schöneres vorstellen könne, als für alle Zeit unter ihrem Gewand zu leben, mich an ihren glatten Beinen festzuhalten, ihre langen Finger im Nacken zu spüren.
– Was starrst du denn so, Achak?, fragt sie mich lachend, sie nennt mich beim Vornamen, dem Namen, den ich benutzte, ehe er in Äthiopien und Kakuma von Spitznamen verdrängt wurde, von so vielen Namen.
Ich werde oft dabei ertappt, wie ich meine Mutter beobachte, und auch diesmal ertappt sie mich. Sie scheucht mich fort, zum Spielen mit meinen Freunden, und ich laufe zu der Riesenakazie, um William K und Moses zu treffen. Sie sind dort unter der knorrigen Akazie in der Nähe der Landebahn, wo Strauße kreischend die Hunde jagen.
Moses war stark, TV-Boy, größer, als ich es war, größer als du, mit Muskeln wie ein Mann und einer halbkreisförmigen mattrosa Narbe auf der Wange, wo er sich verletzt hatte, als er durch einen Dornbusch rannte. William K war kleiner, magerer, mit einem riesigen Mund, der die Luft unermüdlich mit allem erfüllte, was ihm gerade einfiel. Kaum hatte er morgens die Augen aufgeschlagen, da bedrängte er den Himmel auch schon mit seinen Gedanken und Meinungen und vor allem mit seinen Lügen, denn William K log für sein Leben gern. Er dachte sich alle möglichen Geschichten aus, über andere Leute und über die Sachen, die er besaß oder besitzen wollte, über Dinge, die er gesehen und gehört hatte und die seinem Onkel, einem Parlamentsabgeordneten, auf seinen Reisen zu Ohren gekommen waren. Sein Onkel hatte Menschen gesehen, die Beine wie ein Krokodil hatten, Frauen, die über Häuser springen konnten. Am liebsten jedoch erfand er Märchen über William A, den anderen William in unserer Altersgruppe und daher der ewige Erzfeind von William K. William K gefiel es nicht, dass er denselben Namen hatte wie ein anderer, und glaubte wohl, wenn er den anderen William nur genug drangsalierte, würde dieser schließlich seinen Namen aufgeben oder einfach verschwinden.
Heute, an dem Tag, den ich im Bedarfsfall heraufbeschwöre, ist William K gerade mitten in einer Geschichte, als ich zur Akazie komme.
– Der trinkt seine Milch direkt aus dem Euter. Wusstet ihr das? Davon wird man krank. Davon kriegt man Ringelflechte. Bei Ringelflechte fällt mir ein, Willliam A’s Vater stammt teilweise vom Hund ab. Wusstet ihr das?
Moses und ich achten gar nicht auf William K und hoffen, dass er die Lust verliert. Das passiert aber nicht an diesem Tag, es passiert nie. Schweigen erinnert William K lediglich daran, dass weitere Worte und Laute aus der dunklen endlosen Höhle seines Mundes benötigt werden.
– Eigentlich sollte es mich stören, dass er denselben Namen hat, aber das macht nichts, weil er nächstes Jahr nicht mehr in meiner Klasse ist. Habt ihr schon gehört, dass er zurückgeblieben ist? Tatsache. Er hat das Gehirn einer Katze. Nächstes Jahr darf er nicht mehr zur Schule gehen. Er muss zu Hause bei seinen Schwestern bleiben. Das kommt davon, wenn man Milch direkt aus dem Euter trinkt.
In ein paar
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