Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
Vom Netzwerk:
und sah bloß noch eine Wand aus kaffeefarbenem Wasser vor mir. Immer an der gleichen Stelle im Traum, wenn die Wellen zu Wänden geworden waren, war ich wieder ich selbst, und von da an spielte der Traum größtenteils unter dem kaffeefarbenen Wasser. Auf einmal war ich nämlich auf dem Grund des Flusses, zwischen den grünen Tentakeln der Unterwasserpflanzen. Die Jungen, die versucht hatten, mir zuzuhören, befanden sich jetzt auch auf dem Grund des Flusses, und es war meine Aufgabe, sie wieder an die Oberfläche zu befördern. Ich wusste, dass das meine Aufgabe war, und ich machte mich mit fachmännischer Effizienz an die Arbeit. Ich suchte mir einen Jungen nach dem anderen – sie waren nicht tot, sondern saßen auf dem Flussgrund –, und ich fasste ihnen unter die Arme und schickte sie nach oben. Es ging ganz einfach.
    Wenn ich einen Jungen sah, schob ich mich unter ihn und hob ihn unter den Armen hoch. Ich tat das in dem Wissen, dass der Junge dann sogleich in Sicherheit sein würde. Er würde leben und die Luft oben atmen, nachdem ich ihn an die Oberfläche befördert hatte. Während ich das tat, machte sich ein Teil von mir Sorgen, ich könnte ermüden. Es waren so viele, die nach oben geschickt werden mussten, und ich war schon so lange unter Wasser – bestimmt würde ich ermüden, und dann wären manche Jungen unrettbar verloren. Doch meine Angst war unbegründet. In dem Traum ermüdete ich nie und ich musste auch nicht atmen. Ich bewegte mich unter Wasser von Junge zu Junge zu Junge und beförderte sie nach oben an die Luft und ans Licht.
    – Achak, flüsterten sie mir zu, und ich schob sie an die Oberfläche.
    – Valentino, flüsterten sie, und ich schob sie nach oben.
    – Dominic!, flüsterten sie, und ich schob und schob sie hinauf.
    Ich war jetzt achtzehn Jahre alt. Seit sechs Jahren war ich in Kakuma. Noch immer lebte ich bei Gop Chol und seiner Familie, und während dieser Zeit hatte ich den Traum wohl hundertmal geträumt, und seine Botschaft war mir klar: Ich war verantwortlich für die nächste Generation von Jungen. Wir schwammen alle gemeinsam auf der Stelle, und ich sollte ihr Lehrer sein. Also wurde ich Lehrer im Flüchtlingslager Kakuma, und gleichzeitig wurde ich Dominic.
    Der Name Valentino war durch den Namen Dominic verdrängt worden, zumindest in vielen Köpfen, und obwohl ich diesen Spitznamen eigentlich nicht sonderlich mochte, blieb er doch hartnäckig an mir haften. Verpasst bekam ich den Namen Dominic aufgrund meines engen Verhältnisses zu Miss Gladys, meiner Lehrerin und der wohl begehrenswertesten Frau in Kakuma, daher wehrte ich mich nicht dagegen. Miss Gladys war Leiterin der Theatergruppe und später meine Geschichtslehrerin, eine junge Frau mit einer bemerkenswerten Ausstrahlung und Anmut. Es war Miss Gladys, die mich mit Tabitha bekannt machte, und es war Miss Gladys, die mir half, die Lichter Nairobis und eine Möglichkeit zur Flucht vor dem Wind und der Dürre Kakumas zu sehen. Und ich hielt die Hand von Miss Gladys, während ich Deborah Agok lauschte, einer reisenden Hebamme, die etwas über das Schicksal meiner Familie und meines Heimatortes wusste. Es war eine ereignisreiche Zeit für mich und für so viele andere junge Männer in Kakuma, obwohl die Dinka, die im Sudan geblieben waren, in jenem Jahr eine grauenhafte Hungersnot erlebten, die von Gott geschaffen und von Khartoum gefördert wurde.
    El Niño hatte eine etwa zweijährige Dürre gebracht, und der Süden brauchte dringend Hilfe. In Bahr al-Ghazal waren Hunderttausende vom Hungertod bedroht, und Bashir nutzte die Gelegenheit, um sämtliche Flüge über den Südsudan zu verbieten. Die Region war praktisch von sämtlichen Hilfstransporten abgeschnitten, und diejenigen, die tatsächlich durchkamen, wurden von der SPLA und einzelnen Häuptlingen abgefangen, die nicht immer eine gerechte Verteilung sicherstellten. Das alles machte das Leben in Kakuma noch attraktiver, und die Bevölkerung des Lagers wuchs rasch an. Aber wenn einer erst einmal dem Chaos im Sudan entronnen war und offiziell als Flüchtling in Kakuma anerkannt war, mit Anspruch auf sämtliche Leistungen und Schutz, gab es für ihn kaum etwas anderes zu tun, als die Zeit totzuschlagen. Neben der Schule bedeutete das AGs, Theateraufführungen, HIV-Aufklärungsprogramme, Puppenspiele – ja sogar Brieffreundschaften mit Japan.
    Die Japaner interessierten sich in vielerlei Hinsicht für Kakuma, und das Brieffreundschaftsprojekt war der Anfang. Die

Weitere Kostenlose Bücher