Weit Gegangen: Roman (German Edition)
unserem Baby dort, das Husten hat, und wir fürchten, es ist ernst. Aber sie haben gesagt, sie seien in ein paar Stunden wieder hier, und dann kehren wir nach Kakuma zurück. Bist du gegen acht Uhr dort?
Der Mann nahm mir den Rucksack aus der Hand, und ich sagte unwillkürlich ja, ich würde gegen acht Uhr dort sein. Er hatte etwas Vertrauenerweckendes an sich, oder vielleicht war ich einfach zu müde, um noch klar denken zu können. Auf jeden Fall wünschte ich dem Mann alles Gute und ließ der Frau und dem Baby des Mannes Grüße und beste Genesungswünsche ausrichten. Der Mann ging mit meinen Sachen davon.
– Musst du nicht wissen, wo ich wohne?, rief ich ihm nach, als er im rötlichen Licht vor einem der Läden verschwand.
Der Mann wandte sich um und wirkte überhaupt nicht verlegen.
– Ich dachte, ich frage einfach nach dem berühmten Valentino!
Ich gab ihm trotzdem meine Adresse und ging dann auf die Straße hinaus, die zurück nach Kakuma führte. Nachdem ich ein kurzes Stück gegangen war, wurde mir klar, dass der Mann mich betrogen hatte und nie nach Kakuma kommen würde. Ich hatte meine Sachen soeben einem Fremden gegeben und damit das einzig Wertvolle verspielt, das ich besaß. Ich marschierte den ganzen Weg zurück nach Kakuma, ließ jeden Lastwagen an mir vorbeifahren. Ich versuchte nicht, eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern, und ich hatte kein Geld mehr, um Polizisten zu bestechen. Ich hielt mich die ganze Zeit im Schatten, denn ich wusste, wenn ich geschnappt würde, wäre alles verloren, und ich würde auch noch die wenigen Vergünstigungen verlieren, die ich als Flüchtling hatte. Ich huschte von Busch zu Busch, von Graben zu Graben, kroch und robbte und atmete zu laut, wie damals, als ich aus meinem Heimatdorf geflohen war. Jeder Atemzug war ein umstürzender Baum, und ich wurde ganz verrückt von dem Krach, aber ich hatte es verdient, in Panik auszubrechen. Ich wollte mit meiner Dummheit allein sein, die ich in drei Sprachen verfluchte und mit aller Wut, die ich in mir hatte.
XXIII.
Der Traum kam mit verblüffender Regelmäßigkeit einmal im Monat, meistens am Sonntagnachmittag, wenn ich Gelegenheit hatte zu schlafen. Die ganze Woche bestand aus Arbeit und Schule, aber sonntags hatte ich keinerlei Aufgaben zu erledigen, und dann las ich und streifte durchs Lager, und am späten Nachmittag legte ich mich in den Schatten meiner Unterkunft, die nackten Beine in der Sonne, und schlief einen tiefen und erholsamen Schlaf.
Aber der Flusstraum raubte mir jede Ruhe. Immer wenn ich ihn hatte, wachte ich bedrückt und gehetzt auf.
In dem Traum war ich viele, wie man im Traum eben viele Personen gleichzeitig sein kann. Ich war ich selbst, ich war mein Lehrer Mr Kondit, und ich war Dut. Ich konnte das gut auseinanderhalten, so wie man im Traum immer auseinanderhalten kann, wer man ist und wer nicht. Ich war eine Kombination der beiden Männer, und ich trieb in einem Fluss. Der Fluss war zum einen Teil der Fluss meines Heimatdorfes Marial Bai und zum anderen der Gilo River, und mit mir im Fluss befanden sich etliche Jungen.
Es waren kleine Jungen, die ich kannte. Manche von ihnen waren die Jungen, die in Kakuma unter meiner Obhut standen, etliche davon waren im Camp geboren, aber es waren auch Jungen dabei, die nie über die Kindheit hinausgekommen waren: William K, Deng, die Jungen, die Gott während unseres Marsches zu sich gerufen hatte. Wir befanden uns alle im Fluss, und ich versuchte, meine Schüler im Fluss zu unterrichten. Alle Schüler, zirka dreißig Jungen, schwammen auf der Stelle, und ich schwamm auch auf der Stelle und rief den im Fluss treibenden Jungen englische Verbformen zu. Das Wasser war aufgewühlt, und ich war frustriert, weil es so schwierig war, den Jungen unter diesen Bedingungen etwas beizubringen. Die Jungen ihrerseits taten ihr Bestes, sich zu konzentrieren, während sie gleichzeitig Wasser traten und den Wellen auswichen, die immer wieder anrollten. Die Jungen verschwanden regelmäßig hinter einer Welle und tauchten dann wieder auf, wenn die Welle weg war. Und die ganze Zeit über wusste ich, dass das Wasser kühl war. Es war so herrlich kühl, wie das Wasser, das mir der Mann, den es nicht gab, in der Wüste mit dem Stacheldraht gereicht hatte.
Immer wenn ich von einer kühlen Wasserwelle hochgehoben wurde, konnte ich für einen Moment die Köpfe aller meiner Schüler sehen, die sich Mühe gaben, mich zu sehen und zu hören, doch dann glitt ich wieder in ein Wellental
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