Weit Gegangen: Roman (German Edition)
während die übrige Stadt genügend Gründe hatte, sich schlafen zu legen. Zwei der Männer gerieten wegen Geld aneinander, es ging um zehn Dollar, die einer vom anderen geliehen und nicht zurückgezahlt hatte. Es dauerte nicht lange, und es kam zu einer Schlägerei zwischen den beiden, unbeholfen und scheinbar harmlos. Der Dritte wollte sie auseinanderbringen, aber alle drei waren unsicher auf den Beinen und benebelt, und als einer der Männer versuchte, seinem Schuldner gegen die Brust zu treten, verlor er das Gleichgewicht und fiel auf den Kopf. Damit war der Streit für den Abend abrupt zu Ende. Die drei trennten sich, und der dritte Mann half dem Treter nach Hause, wo sein Kopf anschwoll. Einen halben Tag später rief sein Freund einen Krankenwagen, doch da war es schon zu spät. Der Mann, der zugetreten hatte, fiel ins Koma und starb zwei Tage später.
Passieren solche Dinge auch Amerikanern? Ein Mann versucht, einen anderen zu treten, und stirbt dann? Gibt es etwas Erbärmlicheres? Mussten es zehn Dollar sein? Ich merke, dass ich den dritten Mann verfluche, den Freund, weil er den Treter nicht früher ins Krankenhaus gebracht hat, weil er aller Welt erzählt hat, um wie wenig es bei dem Streit gegangen war. Jetzt kann jeder sagen, die Sudanesen bringen sich wegen zehn Dollar gegenseitig um.
Ich schicke vielen Geld. Weil in Kakuma alle wussten, dass ich dort einen Job hatte, meinen sie, ich sei in Amerika wahnsinnig erfolgreich. Daher bekomme ich Anrufe von Bekannten im Camp und in Nairobi, Kairo, Khartoum, Kampala. Ich schicke, was ich entbehren kann, doch das meiste geht an meine jüngeren Brüder und Halbbrüder, von denen drei in Nairobi zur Schule gehen. Sie waren noch so klein, als ich Marial Bai verließ, dass ich mich kaum an sie erinnern kann. Jetzt sind sie groß und haben Pläne. Samuel, der Älteste und körperlich Kleinste, hat gerade die Highschool abgeschlossen und bewirbt sich an kenianischen Handelsschulen. Peter wird seinen Abschluss an einer von Briten geleiteten Vorbereitungsschule in Nairobi machen, Phil hat seine Schulgebühren mit finanziert. Peter ist mir vielleicht am ähnlichsten, er engagiert sich als Vertrauensschüler, spielt Basketball und hat einen Schwarzen Gürtel in Karate. Er ist ruhig, wird aber von seinen Altersgenossen und Lehrern respektiert. Weil er von meinen Brüdern der verlässlichste ist, schicke ich ihm Geld zur Weiterverteilung an Samuel und Philip, der sechzehn ist und Arzt werden will. Ich bin stolz und glücklich, ihnen Geld schicken zu können, manchmal bis zu dreihundert Dollar im Monat. Aber es ist nie genug. Es gibt so viele andere, für die ich nicht das tun kann, was ich gern tun möchte. Die Schwester meines Vaters lebt mit drei Kindern in Khartoum und kommt kaum über die Runden. Ihr Mann wurde im Krieg getötet, und auch seine Brüder sind tot. Ich schicke ihr Geld, im Schnitt fünfzig Dollar im Monat, und ich wünschte, ich könnte mehr schicken.
Die letzte Nachricht ist von Moses. Moses aus Marial Bai, Moses, der als Sklave in den Norden verschleppt wurde, Moses, der gebrandmarkt wurde und floh und sich später zum Rebellensoldaten ausbilden ließ. Moses, der in Kenia auf eine Privatschule ging und in British Columbia aufs College und der jetzt in Seattle lebt. Ich habe ihn seit Kakuma nicht mehr gesehen, und ich bin so dankbar, als ich seine Stimme höre. Er hat eine so unerschütterlich heitere Stimme, berstend vor Hoffnung.
»Weit Gegangen, mein Alter«, sagt er auf Englisch. Er hat diesen Spitznamen für mich schon immer gemocht. Dann wechselt er ins Dinka. »Lino hat mich angerufen und mir erzählt, was passiert ist. Zunächst mal, sei nicht böse auf Lino. Er hat gesagt, ich sei der absolut Einzige, den er anrufen würde. Und ich werde es niemandem sonst erzählen. Versprochen. Er hat außerdem gesagt, dass es dir einigermaßen geht und die Verletzungen nicht so schlimm sind. Ich wünsche dir also gute Besserung.«
Jedes Mal, wenn ich mich frage, was aus uns werden soll und wer wir sind, beruhigt es mich, mit Moses zu sprechen. Wenn du doch jetzt hier bei mir wärst, Moses! Du wärst stark genug, uns beide durch diesen schrecklichen Morgen zu tragen.
»Hör mal, ich weiß, es ist kein günstiger Zeitpunkt, um das zur Sprache zu bringen …«, sagt er und mir stockt der Atem. »Aber ich organisiere einen Marsch …« Ich atme aus. Er sagt, er organisiert einen Marsch, um auf die Not der Menschen in Darfur aufmerksam zu machen. Er hat vor,
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