Weit Gegangen: Roman (German Edition)
wüsste, was mir gestern passiert ist, würde er mir stundenlang Vorträge darüber halten, was ich machen, wen ich anrufen und wo ich Beschwerden und Anklagen einreichen solle. Ich bin allein im Foyer, setze mich und schalte den Computer an. Mein Job besteht darin, die Mitglieder bei ihrer Ankunft anzumelden und Werbeprospekte an mögliche Mitglieder zu verteilen. Montags dauert meine Schicht nur vier Stunden, und um diese Uhrzeit ist noch nicht viel los. Aber es gibt ein paar Stammgäste, und ich kenne ihre Gesichter, wenn auch nicht immer ihren Namen.
Der Erste ist immer Matt Donnelley, der oft gleichzeitig mit mir ankommt. Er läuft von 5.30 bis 6.05 Uhr auf dem Laufband und macht dann zweihundert Situps, ehe er duscht und wieder geht. Da kommt er, ein paar Minuten verspätet, kräftig gebaut, mit einem dünnen blauroten Schlitz als Mund. Als ich im Klub anfing, unterhielt er sich eines Morgens kurz mit mir, fragte nach der Geschichte der Lost Boys und nach meinem Leben in Atlanta. Er war belesen und ehrlich am Sudan interessiert. Die Namen Bashir, Turabi und Garang sagten ihm etwas. Er war Anwalt, erklärte er, und er sagte, ich solle ihn anrufen, falls ich Hilfe oder rechtliche Unterstützung bräuchte. Aber mir fiel kein Grund ein, warum ich ihn hätte anrufen sollen, und seitdem haben wir uns immer nur knapp gegrüßt.
»He, Valentino«, sagt er. »Wie stehen die Aktien?«
Das erste Mal, dass er mich das fragte, dachte ich, er wollte wirklich von mir wissen, wie die Aktienkurse an jenem Tag waren. »Müsste ich nachsehen«, sagte ich damals. Er erklärte mir den Ausdruck, aber ich weiß noch immer nicht, was ich darauf antworten soll.
Heute sage ich hallo zu ihm, und er gibt mir seine Mitgliedskarte. Ich ziehe sie durch das Lesegerät, und auf dem Computermonitor vor mir erscheint sein Bild, dreißig Zentimeter groß und in knalligen Farben.
»Ich muss mal ein neues Foto machen lassen«, sagt er. »Ich sehe ja aus wie ausgekotzt, oder?«
Ich lächele, und dann ist er weg, im Umkleideraum verschwunden. Aber sein Bild bleibt. Es ist eine Macke des Computersystems, dass die Fotos der Mitglieder auf dem Bildschirm stehen bleiben, bis das nächste Mitglied angemeldet wird. Wahrscheinlich gibt es einen Trick, wie man sie wegbekommt, aber den kenne ich nicht.
Also starre ich Matt Donnelley eine Weile an.
Zuerst war es ein Gerücht, Matt Donnelley. Im windgepeitschten Kakuma sprachen die Menschen über Amerika. An einem Apriltag des Jahres 1999 sprachen die Menschen am Morgen über alles Mögliche – Fußball, Sex, einen bestimmten UN-Helfer, der versetzt worden war, weil er einen kleinen somalischen Jungen angefasst hatte – und bei Sonnenuntergang sprach niemand mehr über etwas anderes als Amerika. Wer würde gehen? Wonach würden sie entscheiden? Wie viele würden gehen?
Es fing mit einem der Dominics an. Er war im Büro der UN-Flüchtlingshilfe gewesen, als er jemanden telefonieren hörte. Die Person hatte in etwa Folgendes gesagt: – Das sind sehr gute Nachrichten. Wir sind sehr froh, und die Jungen werden auch sehr froh sein, da bin ich sicher. Genau, die Lost Boys. Wenn Sie wissen, wie viele Sie nehmen werden, sagen Sie mir bitte Bescheid.
Binnen Tagen waren diese Worte unter den Elternlosen von Kakuma hundertfach, vielleicht tausendfach wiederholt worden. Niemand konnte sich mehr auf etwas anderes konzentrieren, niemand konnte mehr Basketball spielen, der Unterricht war eine Katastrophe. Überall standen Grüppchen von Jungen zusammen, zwanzig bis fünfzig auf einmal, und drängten sich um denjenigen, der gerade die neusten Informationen hatte. An einem Tag hieß es, alle Lost Boys würden nach Amerika geholt werden. Am nächsten Tag hieß es, Amerika und Kanada würden uns nehmen, und dann Australien. Keiner wusste wirklich etwas über Australien, aber wir stellten uns vor, dass die drei Länder nahe beieinanderlagen oder vielleicht drei Regionen in ein und demselben Land waren.
Gleich zu Anfang ernannte Achor Achor sich selbst zum Experten in Umsiedlungsfragen, obwohl er keinerlei Erfahrung damit hatte.
– Die suchen nur die Besten aus jeder Klasse aus, sagte Achor Achor. – Ich denke, mich werden sie nehmen, aber die meisten von euch werden hierbleiben müssen.
Den meisten Jungen widersprachen dieser Ansicht, die auch schon bald von den Fakten widerlegt wurde. Die Vereinigten Staaten planten, Hunderte oder vielleicht Tausende junger Männer aus Kakuma aufzunehmen. Fortan konnte ich an
Weitere Kostenlose Bücher