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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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nichts anderes mehr denken. Wir wussten, dass Flüchtlinge aus Camps wie dem unseren umgesiedelt wurden, aber nur unter extremen und seltenen Bedingungen, die fast ausschließlich auf bekannte politische Dissidenten, Vergewaltigungsopfer und andere zutrafen, deren Sicherheit permanent bedroht war. Dieses neue Projekt jedoch schien etwas ganz anderes zu sein, ein Plan, die meisten oder alle Elternlosen über den Ozean nach Amerika zu bringen. Es war die ungewöhnlichste Idee, von der ich je gehört hatte.
    Wir diskutierten tagelang, um eine Erklärung dafür zu finden, warum um alles in der Welt die Vereinigten Staaten uns haben wollten. Tatsache ist, dass dieses Land keinerlei Verpflichtung hatte, viertausend junge Männer aufzunehmen, die in einem Camp in Kenia lebten. Es war ein Akt der Nächstenliebe, ohne materiellen Nutzen für die USA. Wir waren keine Wissenschaftler oder Ingenieure, wir hatten keinerlei wertvolle Erfahrungen und keine Ausbildung vorzuweisen. Wir stammten auch nicht aus einem Land wie Kuba oder China, das bloßgestellt würde, wenn wir überliefen. Wir waren bitterarme junge Männer, die ihr Bestes tun wollten, um aufs College zu gehen und bessere Menschen zu werden. Mehr nicht. Diese Überlegungen machten das Ganze nur noch unerklärlicher.
    Wir wussten nicht viel über Amerika, aber wir wussten, dass dort Frieden herrschte und wir in Sicherheit wären. Wir würden jeder ein Zuhause und ein Telefon haben. Wir könnten unsere Ausbildung fortsetzen, ohne uns über Essen oder irgendwelche anderen Sorgen Gedanken machen zu müssen. Wir malten uns ein Amerika aus, das ein Amalgam dessen war, was wir in Filmen gesehen hatten: Hochhäuser, bunte Farben, ungeheuer viel Glas, verrückte Autounfälle und Waffen, die nur von Verbrechern und Polizisten benutzt wurden. Strände, Meer, Motorboote.
    Sobald die bloße Möglichkeit in unseren Köpfen real geworden war, rechnete ich damit, jeden Moment abgeholt zu werden. Man hatte uns keinen Zeitplan gegeben, daher schien es durchaus möglich, dass ich an einem Morgen noch in der Klasse saß und am nächsten Morgen schon im Flugzeug. Achor Achor und ich sprachen darüber, dass wir jederzeit bereit sein mussten, weil wahrscheinlich eines Tages ein Bus kommen würde, der dann direkt zum Flughafen fuhr, und von da aus ging es ab nach Amerika. Wir hatten eherne Absprachen getroffen, die sicherstellten, dass keiner von uns den anderen vergessen würde.
    – Falls du in der Schule bist, wenn der Bus kommt, komme ich schnell rüber und sage dir Bescheid, sagte ich.
    – Kann ich mich darauf verlassen?, fragte Achor Achor.
    – Natürlich. Und falls ich bei der Arbeit bin, holst du mich dann?
    – Versprochen. Ich gehe hier nicht ohne dich weg.
    – Sehr gut. Und ich nicht ohne dich, sagte ich.
    Im Unterricht versuchte ich mich zu konzentrieren, aber es ging nicht. Ständig behielt ich die Straße im Auge, hielt nach dem Bus Ausschau. Ich vertraute Achor Achor, fürchtete aber, dass wir beide unsere Abfahrt verpassen könnten. Wir kamen auf die Idee, dass es vielleicht nur einen Bus gäbe, und wer auch immer es in diesen Bus schaffte, würde nach Amerika kommen – sonst keiner. Dieser Gedanke erschwerte unseren Tagesablauf, weil wir beide von morgens bis abends Posten bezogen. Wochenlang konnten wir uns nur nachts entspannen, wenn wir sicher waren, dass der Bus nicht kommen würde. Flugzeuge konnten nachts ja nicht fliegen, argumentierten wir, daher würde der Bus uns auch nicht nachts abholen. Wir kamen außerdem zu dem Schluss, dass der Bus nicht an einem Wochenende kommen würde, also entspannten wir uns auch an den Tagen. Das Ganze war natürlich völlig abwegig, weil uns niemand irgendetwas von einem Bus erzählt hatte und schon gar nicht von dessen Fahrplan. Wir hatten unsere Theorien und Pläne aufgestellt, ohne irgendwelche Fakten zu kennen. Doch in jenen Tagen hatte jeder seine eigene Theorie, die eine so plausibel wie die andere, denn nichts schien mehr unmöglich.
    Es überraschte mich sehr und ebenso Achor Achor und die anderen, dass der Bus nach zwei Wochen noch immer nicht gekommen war. Wir fragten uns, ob es irgendwelche Schwierigkeiten gab und welche das sein mochten. Abgesehen von unbekannten und unkontrollierbaren Faktoren gab es welche, die wir sehr gut kannten. Die sudanesischen Ältesten in Kakuma, von denen ein Großteil nicht zulassen wollte, dass wir Jungen in die Vereinigten Staaten gingen.
    – Ihr werdet eure Kultur vergessen, sagten

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