Weit Gegangen: Roman (German Edition)
zwei, drei! Die Kenianer hoben den Lieferwagen an. Sie wippten ihn hin und her, und als der Wagen ein Stück von Noriyaki weggekippt war, konnte einer der Männer daruntergreifen und Noriyaki herausziehen. Dann fiel der Wagen wieder auf die Stelle, wo Noriyaki gelegen hatte. Die Männer trugen Noriyaki zur Straße hoch, sein Körper war schlaff, und es lief kein Blut mehr aus seinem Kopf.
Das sah ich, ehe ich umfiel.
Ich wurde auf den Lebensmittelwagen geladen und nach Kakuma gebracht. Unterwegs wurde ich wach.
– Er lebt!
– Siehst du, Simon?
– Ah, gut! Gut! Wir waren uns da nicht sicher, Sudan.
– Du wärst gestorben, wenn wir nicht zufällig vorbeigekommen wären.
– Bleib wach, Junge. Wir brauchen noch eine Stunde.
– Bete, Sudan. Wir beten für dich.
– Er muss nicht beten. Gott hat ihn heute verschont.
– Ich denke, er sollte beten. Er sollte Dank sagen und weiter beten.
– Okay, Sudan, bete. Bete, bete, bete.
Zwei weitere Mitglieder betreten den Klub, ein Pärchen. Ich habe ihre Namen vergessen. Sie lächeln mich an und sagen nichts, seine Hand ruht unten auf ihrem Rücken. Sie sind geschäftsmäßig gekleidet und reichen mir ihre Mitgliedskarten. Jessica LaForte. Malcolm LaForte. Sie lächeln erneut und gehen dann weiter. 1
Ich blicke auf das Gesicht von Malcolm LaForte und wünsche, ich hätte sie in umgekehrter Reihenfolge eingelesen. Seine Frau ist dunkeläugig und dunkelhaarig, und ihr Gesicht ist weich und versöhnlich. Er dagegen ist ein streng aussehender Mann. Ein ungeduldiger Mann. Ungeduldige Menschen haben mir das Leben weit schwieriger gemacht, als es sonst vielleicht gewesen wäre. Er bringt ein gezwungenes Lächeln zustande, das er für aufrichtig hält, und verschwindet dann im Innern des Klubs.
Für das Camp war ich tot, Malcolm LaForte. Viele Tage glaubten dort viele Hundert Menschen, ich sei gestorben. Die Zahl der bei dem Unfall Getöteten schwankte von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. Zuerst galten alle im Lieferwagen als tot. Dann trafen die Basketballspieler nach und nach wieder in Kakuma ein, bis klar war, dass keiner der Jungen gestorben war. Alle hielten das für ein Wunder.
Aber ich war tot, ganz bestimmt. Valentino Achak Deng war tot.
Als Gop und seine Familie das hörten, weinten und jammerten sie. Alle, die mich kannten, verfluchten daraufhin Noriyaki, sie verfluchten Kakuma und Basketball und die schlechten kenianischen Straßen. Meine Kollegen beim UN-Flüchtlingshilfswerk waren untröstlich. Die Napata-Theatergruppe veranstaltete unter Leitung von Miss Gladys eine Gedächtnisfeier für mich, auf der Dominic und Madame Zero und alle anderen kurze Reden hielten. Tabitha blieb vor lauter Kummer drei Tage im Bett und stand erst wieder auf, als sie hörte, dass ich doch nicht tot war.
Ich erwachte im Lopiding Hospital. Eine Krankenschwester hatte mir eine Hand auf die Stirn gelegt. Sie sagte etwas zu mir, während sie auf ihre Uhr schaute.
– Weißt du, was passiert ist?, fragte sie.
– Ja, sagte ich, obwohl ich mir nicht sicher war.
– Von deinen Freunden ist keiner tot, sagte sie.
Was für eine Erleichterung. Ich erinnerte mich daran, dass Noriyaki ganz grau ausgesehen hatte und mit Glas bedeckt war, doch nach dem, was diese Frau sagte, schien er überlebt zu haben.
– Nur der japanische Fahrer ist tot, sagte sie und stand auf.
Sie ging, und ich war allein.
Noriyakis Familie!, dachte ich. Großer Gott. Das war zu viel. Ich hatte sinnloses Sterben gesehen, aber es war so lange her, dass ich so etwas gesehen hatte.
Ich war für Noriyakis Tod verantwortlich. Wegen Jungen wie mir war Kakuma überhaupt erst geschaffen worden. Wenn es kein Kakuma gegeben hätte, wäre Noriyaki nicht nach Kenia gekommen. Er wäre zu Hause, bei seiner Familie, seiner Verlobten, und würde ein normales Leben leben. In Japan herrschte Frieden, und Menschen aus Ländern, in den Frieden herrscht, sollten nicht in die Angelegenheiten von Ländern im Kriegszustand verwickelt werden. Es war absurd und falsch, dass dieser Mann von so weit hierher gekommen war, um zu sterben. Zu sterben, während er ein paar Flüchtlinge zu einem Basketballspiel fuhr. Zu sterben, weil er miterleben wollte, wie ich das Lager verließ. Diesmal hatte mein Gott etwas Furchtbares getan. Ich dachte schlecht von meinem Herrn und noch schlechter von meinem Volk. Die Sudanesen waren eine Last für diese Erde.
Nachdem ich gesehen hatte, wie Dianas Tod auf der ganzen Welt betrauert worden war, hatte
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