Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Heimatort an und wollten dann Ausführlicheres über die Gefahren wissen, denen ich ausgesetzt gewesen war. Viele andere Lost Boys hatten mir erzählt, mit welchen Fragen ich rechnen musste, doch mir wurden zum Teil ganz andere gestellt. Die Mehrheit der Sudanesen war der Überzeugung, man solle so oft wie möglich übertreiben und angeben, dass die ganze Familie, sämtliche Verwandte tot seien. Ich hatte entgegen vielfachen Rates beschlossen, alle Fragen so aufrichtig wie möglich zu beantworten.
– Leben Ihre Eltern noch?, fragte der Anwalt.
– Ja, sagte ich.
Er lächelte. Diese Antwort schien ihm neu zu sein.
– Ihre Geschwister?
– Das weiß ich nicht, sagte ich.
Von da an beschäftigten sich die Fragen ausführlich mit meinen Erlebnissen als Flüchtling: Welche Gruppen wollten Sie töten und warum wollten sie Sie töten? Welche Waffen haben Sie getragen oder eingesetzt? Ehe Sie Ihr Dorf verließen, haben Sie da gesehen, dass Menschen von den Angreifern getötet wurden? Was hat Sie veranlasst, den Sudan zu verlassen? In welchem Jahr haben Sie den Sudan verlassen? Wann und wie sind Sie in Äthiopien eingetroffen? Haben Sie je an den kriegerischen Auseinandersetzungen im Sudan teilgenommen? Was wissen Sie über die SPLA / SPLM? Sind Sie je zur Rebellenarmee eingezogen worden? Welche Sicherheitsprobleme sehen Sie hier in Kakuma? Und schließlich: Haben Sie je von einem Land namens Vereinigte Staaten von Amerika gehört? Kennen Sie dort jemanden? Möchten Sie lieber nicht in die USA, sondern in ein anderes Land umgesiedelt werden?
Ich beantwortete alle Fragen wahrheitsgemäß, und in zwanzig Minuten war das Ganze vorüber. Ich gab ihnen die Hand und ging aus dem Zimmer, verwirrt und niedergeschlagen. Das konnte doch wohl nicht das Gespräch gewesen sein, das darüber entscheiden würde, ob jemand um die halbe Welt reisen und Angehöriger einer anderen Nation werden durfte. Ich stand noch ganz benommen da, als der Übersetzer die Tür öffnete und meinen Arm fasste.
– Das hast du gut gemacht, Dominic. Keine Sorge. Du blickst so besorgt. Ich bin sicher, jetzt geht alles seinen Gang. Kopf hoch, mein Freund. Und mach dich darauf gefasst, hier wegzukommen.
Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Alles war so lange hinausgezögert worden, dass ich mich nicht mehr traute, überhaupt noch etwas zu erwarten. Ich wusste, es war auf nichts Verlass, solange der eigene Name nicht auf den ausgehängten Listen stand, und bis dahin musste ich weiter arbeiten und zur Schule gehen.
Noriyaki war sich dagegen sicher.
– Oh, du gehst.
– Ehrlich?, sagte ich.
– Und ob, nur noch ein paar Wochen. Tage. Bald.
Ich dankte ihm für seine ermutigenden Worte, aber ich machte keine Pläne. Er hingegen schon. Endlich traf er Vorbereitungen, das Lager zu verlassen. Er war fast ein Jahr länger geblieben als vorgesehen, aber jetzt würde er endlich nach Hause zurückkehren. Meine Erleichterung war enorm. Er war lange genug meinetwegen in Kakuma geblieben, und jeder Augenblick, den er länger blieb, machte mir zu schaffen. Ich wollte, dass er sein eigenes Leben lebte, ich wollte, dass er seine geduldige Verlobte endlich zu einer glücklichen Frau machte. Wir begossen seine bevorstehende Abreise mit Fanta und markierten die bis dahin noch kommenden Höhepunkte auf unserem Kalender. Es blieb nur noch wenig Wichtiges zu tun, bloß die üblichen Spiele und Kurse und Lieferungen von Sportausrüstung und eine Fahrt mit unserer Basketballjugendmannschaft ins kenianische Landesinnere. Wir würden als Aufsichtspersonen und Trainer mitfahren und das, so beschlossen wir, sollte das letzte Hurra des Wakachiai Project werden, zumindest unter unserer Leitung.
Es war Ende Juli, ein klarer Tag. Noriyaki und ich saßen im Führerhaus eines umgebauten Lieferwagens, hinter uns die Basketballjugendmannschaft, zwölf sudanesische und ugandische Jungen, mit denen wir ins vier Stunden entfernte Lodwar wollten, wo sie gegen das Team einer kenianischen Highschool antreten sollten.
Der Tag war so hell. Ich weiß noch, dass ich am Morgen deutlich Gottes Nähe spürte. Es war ein Tag, den viele Frauen als herrlich bezeichneten, als sie erwachten und mit ihrer Arbeit im Haushalt begannen, ein Morgen, für den wir alle dankbar waren.
Wir verließen das Camp sehr früh, gegen fünf Uhr. Die Jungen freuten sich ebenso wie Noriyaki und ich auf die Fahrt. Die Flüchtlinge in Kakuma waren immer froh, wenn sie aus dem Lager rauskamen, ganz gleich, wie lange,
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